Morgen in der Stadt

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Morgen in der Stadt
 
Ich bin für Minuten der einige Besucher im Stehcafé. Man läßt mich in Ruhe Zeitung lesen; ein zweiter Pott Café, wie gewünscht, schwach, wird behutsam serviert. Draußen ist grauer Morgen wie oft zuvor, nichts Schlimmes passiert, und ich wünschte, ich könnte ihn aufheben, um ihn notfalls gegen andere, bösartige, auszutauschen. Ich brauche ja nur die Zeitung aufzuschlagen, um zu sehen, welchen Schicksalsschlägen ich bisher entgangen bin.
 
Die Bäckerin schiebt immer wieder neue Bleche mit weißen Brötchen-Babys in den Backofen, um für den bevorstehenden Ansturm gerüstet zu sein. Es ist noch früh, die meisten Kunden kommen erst noch.
Der Himmel hat sich aufgehellt. Ich erlebe einen jener zauberhaften Augenblicke, in denen der Welt nichts mehr fehlt, und am liebsten möchte ich über eine unsichtbare Barriere springen, damit es immer so bleibt. Hamlet hat ernsthaft darüber nachgedacht. Der alte Schlawiner, es ist nicht die Angst vor „jenem unbekannten Land“ – diese Angst war gestern – es ist irgendwas im Stammhirn, oder es sind die Millionen Zellen, von denen eine jede ihre eigene Intelligenz besitzt, die leben wollen, nichts als leben. Sie sind es, die uns hindern.
Ich bin in die Stadt gefahren und habe mitten im Zentrum einen kostenlosen Parkplatz gefunden. Gerne fahre ich nicht hier herum, vor allem nicht auf engen Parkplätzen. Ältere wie mich guckt die Polizei besonders scharf an, falls etwas passiert.
 
Jetzt bin ich mitten im Fußgängergetümmel. Dort, auf der Erhebung vor dem Bankgebäude, sind Tische und Sessel aufgestellt, sie gehören dem angrenzenden Café. Trotz der Morgenkühle von elf Grad sitzen hier ein alter Mann und ein Junge, wahrscheinlich sein Enkel. Es ist fröstelig, aber wahrscheinlich fühlen sie sich trotzdem wohl in dem glänzenden Licht des frühen Vormittags.
Das ist es, denke ich. Mit einem Enkelkind vor einem Café sitzen und ein zufriedenes Gesicht machen. Der Alte hat es gefunden, das Richtige. Er ist heil geblieben, er hat keine Angst, ja, er ist glücklich. Ich muß es ihm nachmachen, ganz klar.
Aber ich weiß, das wird für mich nicht so leicht sein. Ich mache mir zu viele Gedanken. Man weiß ja nicht einmal, ob später das Sterben reibungslos verläuft, denke ich.
 
Jetzt trägt der Tag die ersten Früchte. Einen Uhrenhändler überrede ich, mir meine digitale Armbanduhr einzustellen, eine unzumutbare Technik. Aber er schafft es, tut es umsonst.
In Bahnhofsnähe will ich an einem offenen Stand ein Schlüsseletui kaufen.
Sieben Euro, sagt der dunkelhaarige Verkäufer. Ich denke, das ist weitaus zu teuer. Ich muß einen Umweg einschlagen, frage ihn nach seinem Herkunftsland - es ist Afghanistan - kann sofort einen afghanischen Freund benennen, frage nach seiner Familie.
Inzwischen hat er ein weiteres Etui herausgesucht. Das sei genau so wie das erste, beteuert er, nur von einem anderen Hersteller, koste darum nur drei Euro.
Das kaufe ich. Er trägt mir Grüße für meinen afghanischen Freund auf.
 
Ich spaziere weiter. Das will ich doch immer, wenn ich am Schreibtisch sitze, oder wenn ich fahre, um irgendwo pünktlich zu sein, in einem Straßencafé sitzen und durch die Einkaufsstraßen bummeln. Hunderte von interessanten Gesichtern begegnen mir, Hunderte von Schicksalen erahne ich; ein Glockenspiel zeigt hallend die Stunde an, die Wolken scheinen den Rathausturm zu necken, die Sonne lächelt in unsere Gesichter.
Warum tue ich es nicht? Da ist doch ein Straßencafé vor mir. Jetzt ginge es doch!
Wenn Materie und Antimaterie gleich stark geladen sind, verschwinden sie, und es gibt nur noch Energie. So wird es kommen.
 
Bei diesem Gedanken wird es mir klar: Es ist egal.




© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010
Redaktion: Frank Becker

Die Bücher von Karl Otto Mühl erscheinen im Wuppertaler NordPark Verlag
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