Westfälischer Expressionismus – was ist das?

Eine Ausstellung der Kunsthalle Bielefeld

von Rainer K. Wick

Westfälischer Expressionismus – was ist das?



Wilhelm Morgner, Holzarbeiter 1911 - Foto © Rainer K. Wick
 
Bielefeld schreibt Kunstgeschichte
 
Seit dem Jahr 1913 – damals stellten August Macke und seine Malerfreunde im Buch- und Kunstsalon Friedrich Cohen in Bonn aus – ist der Begriff „Rheinischer Expressionismus“ fest etabliert, wenn auch nicht unumstritten. Neben August Macke als Initiator waren an dieser Ausstellung Mackes Vetter Helmuth sowie u.a. Heinrich Campendonk, Max Ernst, Carlo Mense, Heinrich Nauen und Hans Thuar beteiligt. Obwohl keine Künstlergruppe im soziologischen Sinne, jedoch geeint durch das Band avancierter künstlerischer Vorstellungen, hat dieser gemeinsame Auftritt dazu geführt, daß der sog. Rheinische Expressionismus seither als ein mehr oder weniger monolithisches Phänomen wahrgenommen wird.
 
Mit einem Label, das ganz offensichtlich an den Begriff „Rheinischer Expressionismus“ angelehnt ist, wartet nun die Kunsthalle Bielefeld auf, indem sie in ihren Räumen in einer spezifischen Auswahl den „Westfälischen Expressionismus“ präsentiert. Das ist verdienst- und verhängnisvoll zugleich. Verdienstvoll, weil damit ein Stück künstlerischer Provinz dem Vergessen entrissen wird, verhängnisvoll, weil ein Etikett gefunden wurde und damit ein Stilbegriff betoniert wird, der eine Einheit oder Homogenität suggeriert, die es in dieser Form nie gegeben hat. Zudem irritiert, daß zwei prominente Künstler, die bislang als „Rheinische Expressionisten“ rangieren, nämlich August Macke und Carlo Mense, nun unter der Flagge „Westfälischer Expressionismus“ segeln. Zwar wurde Macke im westfälischen Meschede geboren, kam aber schon 1900 als Dreizehnjähriger ins rheinische Bonn, wo er sich in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg bis zu seinem frühen Tod 1914 zu einem Protagonisten der Moderne entwickelte, und Carlo Mense, geboren in Rheine in Westfalen, hat seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die längste Zeit seines Lebens im Rheinland verbracht (er verstarb 1965 in Königswinter). So bezaubernd schön die in der Kunsthalle Bielefeld gezeigten Werke von Macke und Mense auch sein mögen, sie haben nichts spezifisch „westfälisches“ und machen deutlich, daß der „Westfälische Expressionismus“ eher ein Konstrukt der Museumskuratorin Jutta Hülsewig-Johnen ist. Bei einem Rundgang durch die – zweifellos sehenswerte – Ausstellung wird dies unmittelbar evident, sieht man sich doch ganz verschiedenen künstlerischen Haltungen und ästhetischen Auffassungen gegenüber.
 
Versucht man, so etwas wie die Zentren des Westfälischen Expressionismus aufzuspüren, so sieht man sich mit Bielefeld, Soest und Hagen konfrontiert.
 
Bielefeld ­– Godewols und Böckstiegel
 
Kristallisationskern eines expressionistischen Erneuerungsimpulses war in Bielefeld die Malklasse von Ludwig Godewols (1870–1926) an der dortigen Handwerker- und Kunstgewerbeschule. Vom Handwerk herkommend und anfänglich ganz den akademischen Normen verpflichtet, gelangte

Ludwig Godewols, Weites Land 1920 - Foto © Kunsthalle Bielefeld
Godewols selbst erst in den Zwanziger Jahren zu einem zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit oszillierenden Malstil. Als Lehrer zeichnete es sich jedoch schon früh durch Offenheit für die Moderne aus. So besuchte er mit seiner Klasse im Jahr 1909 das von Karl Ernst Osthaus gegründete Folkwang-Museum in Hagen mit seiner Sammlung damals modernster Kunst, 1912 wurde der legendären Sonderbund-Ausstellung in Köln ein Besuch abgestattet, wo die Schüler Gelegenheit hatten, sich ein umfassendes Bild von den neuesten künstlerischen Entwicklungen der internationalen Avantgarde zu machen. Die in Bielefeld ausgestellten Arbeiten aus der Malklasse Goldewols von Künstlern, deren Namen heute kaum mehr bekannt sind, zeigen, daß die Schüler nicht selten schneller und radikaler ihre Schlüsse aus diesen Anregungen zogen als ihr Lehrer selbst. 
 
Der prominenteste und profilierteste Schüler Godewols, der in der Bielefelder Kunsthalle mit einer

Peter August Böckstiegel, Selbstbildnis 1913
Foto © Kunsthalle Bielefeld
repräsentativen Werkauswahl vertreten ist, war Peter August Böckstiegel (1889–1951). Seine frühen Bilder aus der Vorkriegszeit lassen zum Teil deutlich die Patenschaft Vincent van Goghs, aber auch Einflüsse der Brücke-Künstler erkennen, nach dem 1. Weltkrieg pflegt er einen starkfarbigen und formal ausdrucksstarken Malstil, der ihn zu einem bemerkenswerten Repräsentanten der sog. Zweiten Expressionistengeneration werden ließ. Bäuerliche Themen und das ländliche Milieu spielen bei ihm eine ebenso bestimmende Rolle wie bei etlichen anderen „Westfälischen Expressionisten“ auch.
Den in Bielefeld geborenen Hermann Stenner, (*1891), der ebenso wie Macke schon 1914 im 1. WK fiel, wird man kaum als Schüler Godewols bezeichnen können. Denn nach einem kurzen Besuch der Bielefelder Handwerker- und Kunstgewerbeschule geht er zunächst nach München, dann an die Akademie in Stuttgart, wo er sich bald im engeren Kreis um den dort lehrenden „behutsamen Avantgardisten“ Adolf Hölzel findet. Nur am Rande sei bemerkt, daß diesem sog. Hölzel-Kreis u.a. ein so berühmt gewordener Künstler wie Willi Baumeister oder die späteren Bauhaus-Künstler und -Lehrer Johannes Itten und Oskar Schlemmer angehörten. Sehr schön wird in der Ausstellung der Übergang von einer noch vom Spätimpressionismus herkommenden Auffassung hin zu einer Bildkonzeption dokumentiert, die das Expressive durch Anwendung der von Hölzel vermittelten „Bildgesetze“ zügelt und tektonisch verfestigt. Nur selten sind Arbeiten Stenners in dieser konzentrierten Dichte zu sehen, und allein das lohnt schon den Besuch der Bielefelder Ausstellung.
 
Soest – Morgner, Viegener und Rohlfs
 
Mit der ehemaligen Hansestadt Soest in Westfalen mit ihren großartigen Kirchen und Häusern stehen drei Namen in Beziehung, nämlich die von Morgner, Viegener und Rohlfs.

Hermann Stenner, Das rote Feld, 1913 - Foto © Kunsthalle Bielefeld
Der in Soest geborene Wilhelm Morgner (1891–1917) hat ein äußerst eigenwilliges Œuvre hinterlassen, das sich nur bedingt in das übliche Expressionismus-Klischee einfügen läßt. Beeinflußt durch die Pointillisten, durch van Gogh und durch die Fauves, entwickelt er einen Stil, der sich durch rhythmisch verlaufende Linienbündel, durch kräftige Konturen und ornamentale Tendenzen auszeichnet und teilweise Keith Haring um Jahrzehnte vorwegzunehmen scheint.
Wenig bekannt ist das Werk des Soester Künstlers Eberhard Viegener (1890–1967), dessen frühe Arbeiten (im Unterschied zum Spätwerk) ganz vom Expressionismus geprägt sind und der von dem jahrelang in Soest wirkenden Christian Rohlfs (1849–1938) wesentliche Anregungen empfangen hat. Rohlfs ist der älteste der in Bielefeld präsentierten westfälischen Künstler, dessen Werkentwicklung eine erstaunliche Wandlung von der noch akademischen Historien- und Figurenmalerei des 19. Jahrhunderts über den Impressionismus hin zu einem ganz eigenständigen Expressionismus zeigt.
 
Hagen – Rohlfs und Osthaus
 
Rohlfs kann auch als Bindeglied zur bedeutendsten Drehscheibe der Moderne im westfälischen

Christian Rohlfs, VerlorenerSohn, um 1916
Foto © Kunsthalle Bielefeld
Industrierevier, nämlich Hagen, fungieren. Hier hatte er seit Anfang des Jahrhunderts in dem von Karl Ernst Osthaus gegründeten Museum Folkwang ein Atelier, war es doch die Absicht von Osthaus, seinem Museum eine Malschule anzugliedern, deren Leitung der Künstler übernehmen sollte. Obwohl dieses Projekt unrealisiert blieb, hat Rohlfs bis zu seinem Lebensende (und damit fast zwei Jahrzehnte über den Tod von Osthaus hinaus) dieses Atelier besessen. Osthaus hatte 1896 von seinen Großeltern ein beträchtliches Vermögen geerbt und den Entschluß gefaßt, zwei Drittel des Geldes für volkserzieherische Zwecke und für die Er- und Einrichtung eines Museums zu verwenden. Als engagierter Mentor der Moderne präsentierte er in seinem 1902 eröffneten Folkwang-Museum u.a. Werke von Corot, Rodin, Renoir, Degas, Cézanne, Gauguin und van Gogh und erweiterte seine Sammlung in den folgenden Jahren vor allem durch Bilder der französischen Fauvisten und der deutschen Expressionisten. Hagen wurde, wie oben schon angedeutet, zum Wallfahrtsort auch für einige der „Westfälischen Expressionisten“, die hier Inspiration und Bestätigung für ihr eigenes Tun fanden. Insofern ist Hagen mit Osthaus im Kontext der Bielefelder Ausstellung von erheblicher Bedeutung, ein Aspekt, der in der Ausstellung selbst leider nicht vertiefend dokumentiert wird, dafür aber in dem begleitenden informativen Film zur Sprache kommt, den die Besucher im Tiefgeschoß der Kunsthalle anschauen können.
 
Fragt man abschließend nach dem gemeinsamen Nenner dessen, was den „Westfälischen Expressionismus“ ausmacht, so bleibt das Bild unscharf. Zutreffend stellt Jutta Hülsewig-Johnen im Katalog fest, daß diese Künstler „eher Einzelgänger“ waren, die sich auf „individuellen Pfaden“ bewegt haben. Insofern handelt es sich beim „Westfälischen Expressionismus“ lediglich um einen geographischen Bestimmungsbegriff und keinesfalls um ein kollektives Stilkonzept, auch wenn für manche Bilder – im Unterschied zu jenen der „Rheinischen Expressionisten“ – eine eigenartige Schwere und eine spürbare „Liebe zum Landschaftlichen“ (Hülsewig-Johnen) typisch ist.
 
 
Der Westfälische Expressionismus
Kunsthalle Bielefeld
noch bis zum 20. Februar 2011

Katalog „Der Westfälische Expressionismus“

hrsg. v. Jutta Hülsewig-Johnen und Thomas Kellein
© 2010 Hirmer Verlag, München, 240 Seiten, 24,95 € (Museumspreis)
 
Weitere Informationen unter: www.kunsthalle-bielefeld.de 

Redaktion: Frank Becker