Zwischen den Jahren

von Hanns Dieter Hüsch

© André Poloczek - Archiv Musenblätter
Zwischen den Jahren
 
Sagen Sie mal, was ist eigentlich zwischen den Jahren? Ich muß mal so dumm vorweg fragen. Nicht, daß Sie einen Schreck kriegen. Ich komme Sie nicht besuchen, keine Angst. Aber ich höre den Satz so oft: »Sollen wir das nicht zwischen den Jahren machen?« Oder: »Das machen wir immer zwischen den Jahren, denn sonst kommen wir ja nicht dazu.« Also die Leute müssen noch viel Zeit haben, denke ich dann immer. Denn zwischen den Jahren kann ich schon gar nix mehr machen, weil bei mir diese Zeit schon seit Monaten völlig, also drei- bis viermal völlig zu ist. Obwohl man, das will ich gerne zugeben, am Anfang des Jahres auch schon mal gesagt hat, oder wenigstens gedacht hat, das kann ich ja am Ende des Jahres, also zwischen den Jahren, machen. Nix! Wenn dann diese fünfte Jahreszeit wirklich da ist, hat sich so viel anderes auf meinem Schreibtisch auf- und angehäuft, daß ich schon silberhell lachen muß, wenn einer sagt: » Mach das doch zwischen den Jahren.« Mein Schreibtisch, das wissen Sie, glaube ich, schon, ist ja mein Frühstückstisch, oder besser umgekehrt. Mein Frühstückstisch, pardon, unser Frühstückstisch natürlich, denn manchmal kommen wir auch schon mal zu einem gemeinsamen Frühstück zusammen, meine Frau und ich, aber nicht zwischen den Jahren, denn da muß ja jeder ganz besonders das machen, was er oder sie sonst nicht hatte machen können. Also, unser Frühstückstisch ist mein Arbeitstisch, weil ich mich so ungern von meinem,  also unserem, Frühstückstisch weg bewege, dieser Tisch, verflixt, geht denn dieser Satz nie zu Ende - , dieser Tisch ist über und über mit Post zu- und eingedeckt, so daß ich zwischen den Jahren zu nichts anderem mehr komme, als die wichtigsten Fragen, Anfragen, Grundfragen, Nachfragen zu beantworten. Und alles andere weiter wochenlang liegenzulassen, oft monatelang, weil ich zwischen den Jahren einfach zu nichts mehr komme. Ja früher, vor hundert Jahren, da konnte man noch zwischen den Jahren zu Omma und Oppa fahren, um die verspäteten Weihnachtsgeschenke abzuholen. Damals hat’s ja auch noch geschneit, was das Zeug hielt, und man kam sich vor wie ein russischer Gutsherr, wenn man über die Weite fuhr, zwischen den Jahren. Heute ist man doch froh, wenn man grad seinen neuen Weihnachtspullover, dessen Farbe einem nicht so behagt, umtauschen kann. Und wenn man sich vielleicht noch für Silvester ein paar Scherzartikel besorgt, vielleicht eine Zigarre, die auf der Hälfte explodiert oder so was. Die knappe Zeit zwingt einen ja zur Einfallslosigkeit. Wollen aber nicht geschmacklos werden. Das Jahr hat es gar nicht verdient. Zu viele menschliche Eitelkeiten und zu viele unmenschliche Grausamkeiten passieren zur gleichen Zeit. Schwamm drüber, kann man wohl schlecht sagen. Hut ab wohl auch nicht. So grüße ich Sie zwischen den Fronten und zwischen den Jahren sehr herzlich.



© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Es kommt immer was dazwischen" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung