... bis Z

Die Kolumne am Mittwoch

von Friederike Zelesko
… bis Z
 
Die Kolumne am Mittwoch
von  Friederike Zelesko

 

 Das neue Jahr liegt vor und das vergangene Jahr hinter mir. Das neue Jahr hat noch viele weiße Flecken auf seiner Landkarte – es sind Gegenden in einer Landschaft, die noch von mir zu entdecken sind. Alles ist Zukunft, noch nichts ist gelebt.
Äußere und innere Reisen sind zu bewältigen, so wie im vergangenen Jahr auch. Erstere kann ich organisieren, planen. Letztere sind die wahren Abenteuer für jemanden der schreibt. Was werde ich entdecken? Wo werde ich vielleicht länger bleiben, weil ich mich dort wohlfühle? Welche Geschichte wird sich in mir formen? Welche Menschen werden mir begegnen, mich begeistern? Eines ist sicher, ich werde Augen und Ohren offen halten. Das Sehen und Hören, das Bild und das Wort, sind meine Verbündeten.
Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, daß man neue Landschaften sucht, sondern daß man mit neuen Augen sieht,“ sagt Marcel Proust. Mit neuen Augen sehen, das ist ein schönes Motto für das neue Jahr. Es ist erst fünf Tage alt und ich kann darüber noch nicht sprechen.
Über das alte Jahr zu sprechen ist einfach, es ist Vergangenheit, und ich habe es bereits gelebt: In einer Platanenallee zum Beispiel entdeckte ich die Perspektive. Wenn ich am entferntesten Punkt der Allee ankam, wuchs die Perspektive neu und es überkam mich eine seltsame Ruhe, die nichts wollte. Das ist ein schönes und gleichzeitig ermutigendes Bild, das ich auf einer Fahrt nach Pezenas sah, im Süden Frankreichs, und das mich durch das ganze vergangene Jahr begleitet hatte. Schön, weil die Rinde der Platane wie eine Landkarte aussah, die leer war. Ermutigend, weil die Allee wieder neu begann, sobald ich ein Stück des Weges zurückgelegt hatte.
Vielleicht werde ich mit dem was ich schaffe scheitern, denke ich heute ohne Angst, denn ich habe gleichzeitig die Möglichkeit eines Neubeginns. Das läßt mich weiterreisen. Also steuere ich wieder auf Fluß und Wolke zu, auf die Berge, auf die ockerfarbene, rote und schwarze Erde. Sie zerbröckelt unter ihrem Gewicht, schichtet neue, gewächsbehaarte Körper auf. Würde ich dieser Landschaft im neuen Jahr wieder begegnen, sähe ich sie dann anders, so wie Proust es fordert? Alles was ich sehe oder zurücklege, dient der eigenen Erfahrung.
Einen Weg, den ich schon einmal gegangen bin, merke ich mir. Ich kann mich nicht verirren. Und doch ist der Irrtum allgegenwärtig. Ich kann mich dagegen wappnen, indem ich versuche, alles mit anderen Augen zu sehen und alles was ich brauche, ist ein verläßlicher Rückenwind. Jeder hat eine erstgeschaute Landschaft in sich. In mir verursacht sie Heimweh. Dieses Heimweh ist mein Rückenwind, der mich Jahr für Jahr stetig weitertreibt.


© Friederike Zelesko - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2011