Von Spiegelbildern und Spiegelschriften

Boyan Obretenov - "He Nckam - Ich will nicht"

von Daniel Diekhans
Von Spiegelbildern und Spiegelschriften

He иckaм / Ich will nicht – Ein Bilder-Poesiealbum von Boyan Obretenov und Sohn

Schon der Apostel Paulus nahm den Spiegel als ein Bild für Erkenntnis. Auch Bücher werden gerne als Spiegel beschrieben, die dem Leser Einsichten aller Art bringen. Was aber, wenn ein Buch buchstäblich ein Spiegel ist? Wer nämlich Boyan Obretenovs Gedichtband He nckaм / Ich will nicht in die Hand nimmt, erkennt – wenn auch leicht verschwommen – sein eigenes Gesicht. Was märchenhaft klingt, verdankt sich schlicht dem silberfarbenen Umschlag aus Spiegelkarton. Doch dies ist noch nicht alles: Autor, Titel und Verlag erscheinen spiegelverkehrt, und das Titelbild zeigt eine Gestalt, die ähnlich wie der Betrachter in einen Spiegel blickt.

Wen all diese Spiegeleffekte neugierig auf den Inhalt hinter dem Cover machen, dem entfaltet sich auf über dreißig Faltseiten eine kunstvolle Verknüpfung von Text und Illustration. Kunstvoll zunächst deshalb, weil hier Vater und Sohn ihre je eigenen Talente in dieses Projekt einbringen, denn der zweisprachige Text (bulgarisch/deutsch) stammt vom Autor und Journalisten Boyan Obretenov, die Zeichnungen vom Sohn Alexander. Der Text ist – musikalisch ausgedrückt – eine Variation über ein Thema: Mehr als zweihundert Mal setzt das lyrische Ich an zum titelgebenden Ich will nicht. Den Versen zur Seite gestellt sind die Schwarz-Weiß- Zeichnungen, die wiederum auf der Rückseite der Faltblätter als Weiß-Schwarz-Zeichnungen „gespiegelt“ erscheinen. Die Spiegelungen sind damit noch nicht ausgeschöpft: Selbst der zweisprachige Text präsentiert sich zum Teil als „spiegelverkehrt“. Am Anfang nämlich steht wie so oft das Original links, die Übersetzung rechts. In der zweiten Buchhälfte jedoch findet ein echter Seitenwechsel statt.

Kunstvoll ist Ich will nicht aber auch deshalb, weil die Illustrationen die Verse in wenigen Federstrichen auf den oft spielerisch-komischen Punkt bringen: „Ich will nicht, dass Wale sich das Leben nehmen. […] Ich will nicht in Socken vor den Herrn treten. […] Ich will mich nicht vom Zirkus trennen. Vom Zirkus in mir.“ Und selbst wenn es an einer Stelle heißt: „Ich will nicht alles. Weil es einfach nicht geht“, so gelingt es Boyan Obretenov doch mühelos, eine große Vielfalt an Welt und Welterkenntnis in seinen Versen unterzubringen. Auf einem guten Dutzend Textseiten finden sich Alltag, Kindheitserinnerungen, religiöse und philosophische Gedanken und nicht zuletzt die Hommage an die geliebte Frau: „Ich will nicht, dass dieser Hauch verfliegt, der von den Dielen unter deinem Bett ausgeht […] vom Lippenstift auf dem Glas, von jedem Knopf deines Trenchcoats.“ Da ist es wohl auch kein Zufall, daß Boyan Obretenov das Werk seiner Frau Julija gewidmet hat.
 
Dem Text-Bilderbuch zum Aufklappen und Umblättern folgt auf der letzten Seite ein „Nachsatz“ von Heini Gut und Max Christian Graeff, den Inhabern des verantwortlichen Verlags Das Fünfte Tier, in dem sie erzählen, wie der Text des bulgarischen Vaters den Weg zu den Zeichnungen des in der Schweiz ansässigen Sohnes fand: Ursprünglich wollten sie von diesem ein Buch, aber er habe mit dem Anfang beginnen wollen, nämlich mit einem Text seines Vaters. Ich will nicht findet nun, fünf Jahre nach seiner Erstveröffentlichung im Netz, mit der deutschen Übersetzung eine neue sprachliche Heimat. Oder, um es anders zu sagen, ein angemessenes Spiegelbild.

Beispielbild

Boyan Obretenov
He иckaм / Ich will nicht

Zweisprachig bulgarisch/ deutsch
 
Aus dem Bulgarischen von Béatrice Leclercq

© 2010 Verlag Das Fünfte Tier (Schweiz)

36 Faltseiten, Broschur mit Spiegelkarton, mit 24 Illustrationen von Alexander Obretenov,
ISBN 978-3-9522982-5-1
Sfr 18,00 / Euro 13,–

Weitere Informationen unter:
www.dasfuenftetier.ch