Vergeßlichkeit

von Hanns Dieter Hüsch

© André Poloczek - Archiv Musenblätter
Vergeßlichkeit
 
Ich sage ja immer: Man muß fröhlich sein und nicht verbittern! Ich bin morgens immer fröhlich und tagsüber meist auch noch. Nur habe ich in letzter Zeit festgestellt, daß ich furchtbar vergeßlich bin oder werde. Ich lege mir schon meine Briefe direkt vor die Wohnungstür, damit ich auch gar nicht vergesse, sie mitzunehmen. Aber dann vergesse ich, sie einzuwerfen, schleppe die Briefe tagelang mit mir rum. Also, ich sage Ihnen, ich muß mir alles vor die Wohnungstür legen oder an die Klinke hängen, sonst geht das schief. Zehn Sekunden bevor ich aus dem Haus gehe, sage ich mir noch ganz deutlich selbst ins Gesicht: »Du mußt den Brief mitnehmen!« Und lasse ihn zehn Sekunden später auf der Konsole liegen. Nur wenn ich ihn direkt auf den Fußboden vor die Türe lege, so daß ich fast drüber stolpere, dann nehme ich ihn mit - und werfe ihn dann acht Tage später in Hamburg ein. Obwohl er nur nach Köln sollte! Nun frage ich Sie: Was ist das? Also, daß man Kugelschreiber, Filzstifte, Bleistifte und so weiter überall liegen läßt, das ist ja nix Neues, das ist normal! Und daß ich nach Rezept Tabletten und Tropfen aus der Apotheke hole und dann vergesse, sie einzunehmen - das ist gesund! Aber daß ich einen kleinen Zettel mit einer wichtigen Notiz irgendwo hinlege, um ihn später ordentlich abzuheften, und kann ihn nach einer halben Minute schon nicht mehr finden und suche und suche und suche die ganze Wohnung ab und sage dauernd zu  mir: »Es ist nicht zu fassen! Es ist nicht zu fassen! « Oh- wohl es heißen müßte: Er ist nicht zu fassen, nämlich der Zettel! Und dann rekonstruiere und rekonstruiere ich - wie im Krimi! Und plötzlich kommt mir ein Schimmer und ich reiße den Kleiderschrank auf - und da liegt der Zettel, der unverschämte, unter einem Stoß Hemden, weil ich wieder alles auf einmal machen wollte: Nämlich mein Hemd in den Schrank tun, den unflätigen Zettel abheften, die Lotte Lenya-Biografie auslesen und mir die Fingernägel schneiden, Das geht natürlich nicht! Gott sei Dank fiel mir noch ein, daß ich die Hemden in den Schrank gelegt hatte. Und wenn ich das vergessen hätte, hätte ich den Zettel erst am nächsten Tag gefunden, wenn ich ein neues Hemd gesucht hätte, Und das wäre zu spät gewesen. Denn manchmal stehen ja auf solch einem Zettel die Dinge wie auf des Messers Schneide.


© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Es kommt immer was dazwischen" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung