Geschichte vor der Haustür

Hans Rudolf Uthoff - "Tief im Westen - Das Ruhrgebiet 1950 bis 1969 im Bild"

von Frank Becker
Als im Ruhrgebiet noch
Kohle gefördert wurde

Hans Rudolf Uthoff hat von 1950-1969
die intensivsten Jahre der Region
mit der Kamera dokumentiert
 
Die Schwarz-Weiß-Fotos, die Hans Rudolf Uthoff in den 50er und 60er Jahren zwischen Hattingen und Bochum, Castrop-Rauxel und Essen, Wattenscheid und Recklinghausen mit seiner Leica MP 85 aufgenommen hat, sind Abbilder einer Region, die sich den Zeitläufen geschuldet mit dem Zechensterben seither fast völlig verändert hat. Es sind Spiegel der Menschen im Ruhrgebiet und Dokumente einer arbeitsamen Zeit der Vollbeschäftigung. Wo schlesische Bergleute und einheimische Kumpel nach 1945 die vom Bombenkrieg malträtierte und anschließend demontierte Welt der Zechen, Kokereien und Stahlwerke wieder aufgebaut hatten, wurden schon bald erste Gastarbeiter aus Italien, Spanien, Jugoslawien und der Türkei eingeladen, dort ihr Brot zu verdienen und am blühenden Wirtschaftswunder teilzuhaben.
Es war auch die Zeit der Dortmunder Gruppe 61, in der genau dort, am Puls der Gesellschaft des Ruhrgebietes, die aktuelle Arbeiterliteratur Max von der Grüns, Hans Henning Claers, Günter

Castrop-Rauxel 1961 - Foto © Hans Rudolf Uthoff / www.v-like-vintage.net
Walllraffs oder Erasmus Schöfers entstand.
 
Die Welt war wieder in Ordnung, nachdem ein schrecklicher Krieg und die Geißel der Nazi-Diktatur beendet und langsam, wenn auch noch lange nicht ganz überwunden waren. Die Narben des Krieges zeigten sich noch lange in zerstörten Straßenzügen mit zugemauerten Fensterhöhlen. Doch man konnte sich wieder dem Kleingarten und dem Taubensport widmen, sich schick machen, die ersten Selbstbedienungsläden bewundern und als Kind noch ungefährdet auf der Straße Seilchen springen. Das „Fräulein“ tippte die Briefe im Betrieb, der Schrebergärtner schnitt die Hecke (mit Zigarre im Mund), der Bergmann rauchte nach Schicht seine Zigarette, der Sportverein hatte Zulauf und am Sonntag machte man sich fein und sei es nur zur Skatpartie (mit Kiebitzen) auf der Parkbank. Ein Hörnchen Softeis kostete 30 Pfennig, Bierflaschen hatten Bügelverschlüsse (gibt´s ja heute auch wieder), und wer eine 125er Horex, ein Kreidler Florett oder gar ein Vespa hatte, war fein raus. Denn Autos waren eine Rarität und Parkplätze standen im Überfluß zur Verfügung. Die wenigen finden sich auch auf den Fotos, ob es ein alter Taunus ist, der allgegenwärtige VW Käfer, ein schnittiger Ford 17 M P2 oder ein Opel Rekord B Olympia, hinter dem gemächlich Gänse mitten in Castrop die Straße queren. Wie gesagt: die Welt war in Ordnung. Mit der Kamera unentwegt dabei war Hans Rudolf Uthoff (*1927).
 
Das von Ludger Claßen in Absprache mit Hans Rudolf Uthoff verfaßte Vorwort zu diesem wundervollen Buch trifft den Kern so genau, daß wir es hier mit Erlaubnis des Klartext Verlages wörtlich übernehmen:
„Die Aufbaujahre nach dem Zweiten Weltkrieg werden im Rückblick gern verklärt: Es war die Zeit, in

Castrop-Rauxel 1966 - Foto © Hans Rudolf Uthoff / www.v-like-vintage.net
der die Menschen Vieles zum ersten Mal taten: das erste Auto fahren, die erste Wohnung beziehen, die erste Urlaubsreise antreten. Es war die Zeit des Wirtschaftswunders und einer großen Zuversicht. Und es war rückblickend eine Lebenswelt mit einfachen Strukturen und klaren Verhältnissen. Im Ruhrgebiet waren die Fünfziger Jahre eine hart erarbeitete Erfolgsgeschichte. Die Schwerindustrie florierte und der Krieg war überwunden. Die Jugendjahre der Republik schufen auch den Mythos ,,Ruhrgebiet" mit Arbeit und Wohlstand für alle. Der Bildjournalist Hans Rudolf Uthoff hat die Geschichten der 1950er und 1960er Jahre festgehalten. Als Pressefotograf war er für verschiedene Werkszeitschriften in Stahlindustrie und Bergbau unterwegs und hatte reichlich Gelegenheit, die Lebensumstände der arbeitenden Bevölkerung zu beobachten. Die Männer malochen im Stahlwerk und auf der Zeche, in der Kaue schrubben sich die Bergarbeiter den Kohlenstaub von der Haut. Seine Ruhrgebietsszenen zeigen aber weit mehr als Kumpel und Kohle: Kinder spielen auf der Straße, fahren mit den Seifenkisten um die Wette, man vergnügt sich bei

Gaslaternenmann, Bochum 1964 - Foto ©
Hans Rudolf Uthoff / www.v-like-vintage.net
Modenschauen, auf der Rennbahn und mit Brieftauben; Vater und Tochter gehen im Sonntagsstaat zum 1. Mai: Kleinodien auf Fotopapier, die das Ruhrgebiet der Nachkriegsjahre lebendig werden lassen. Mehrere tausend Schwarz-Weiß-Filme und Papierabzüge hütet Hans Rudolf Uthoff in seinem Ruhrgebiets-Archiv. Die Bilder erzählen von Menschen, die ausgelassen feiern und sich gegenseitig mit Toilettenpapier einwickeln. Oder von einem jungen Paar, das sich sonntags in der Essener Gruga im Liegestuhl räkelt - aber gepflegt, mit Hut und Mantel! Und dann die Villa Hügel: Vor dem berühmten Großgemälde der Familie Krupp packen drei betagte Damen ihre Butterstullen aus. Uthoffs sensibler Blick vermittelt dem Betrachter das Lebensgefühl von damals. Zu diesem Lebensgefühl gehörten, auch das zeigen die Bilder, Trümmergrundstücke, zerstörte Häuser und manche andere Überbleibsel des Zweiten Weltkriegs. Die Nachkriegsjahre waren eine Welt im Aufbau, in der viele Spuren der vergangenen Schrecken noch gegenwärtig waren. Für die damaligen Zeitgenossen werden beim Betrachten der Bilder viele Erinnerungen wach. Für die Kinder und Enkel sind es Zeugnisse einer vergangenen Zeit: als tief im Westen der Alltag der Eltern und Großeltern noch schwarz-weiß war.“ 
 
Dem ist im Grunde nichts mehr hinzuzufügen, außer der Empfehlung, sich das wunderbare Buch zuzulegen und in der „Geschichte vor der Haustür“ zu schwelgen.
 
Hans Rudolf Uthoff: „Tief im Westen. Das Ruhrgebiet 1950 bis 1969 im Bild.“
© 2011 Klartext Verlag Essen. 128 Seiten, gebunden, zahlreiche s/w-Abbildungen, Vorwort von Ludger Claßen -  19,95 €  ISBN 978-3-8375-0300-5


Männerchor des DGB, Essen 1966 - Foto © Hans Rudolf Uthoff / www.v-like-vintage.net
Alle Fotos © Hans Rudolf Uthoff - die Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung der V like Vintage GmbH / www.v-like-vintage.net
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