Höflichkeit

Eine Gedankensenke

von Andreas Steffens

Foto © Frank Becker
Gedankensenke

Eine Kolumne von Andreas Steffens
senke eine ausgehöhlte form, andern dingen darin ihre gehörige gestalt zu geben’ Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch


Höflichkeit
 
     Ich bin der höflichste Mensch von der Welt. Ich tue mir was darauf zu Gute, niemals grob gewesen zu sein auf dieser Erde (1).
     Wer könnte dies heute noch uneingeschränkt von sich behaupten wie Heinrich Heine es zu Beginn seiner Schilderung einer Italienreise im Jahr 1828 ? Ja, wer empfände es noch als erstrebenswert, gar als ein Ideal, dies von sich sagen zu können ?
     Das liegt nicht nur am historischen Abstand. Die Gesellschaft, in der Höflichkeit ein Wert selbstverständlicher Verbindlichkeit war, gibt es nicht mehr. Daraus zu schließen, Höflichkeit sei gesellschaftlich bedeutungslos geworden, hieße, die Grundbedingungen jedes gesellschaftlichen Lebens verkennen. Ihre Beziehung zur Höflichkeit und deren Geltung in ihr, sind vielmehr ein Zeichen dafür, wie gut oder schlecht eine gegebene Gesellschaft ihre elementaren menschlichen Pflichten erfüllt. Eine Gesellschaft, die Höflichkeit nicht mehr kennen wollte, wäre eine, die es aufgegeben hätte, eine menschliche sein zu wollen.
     Bei Hofe ging es grob zu, aber nach feinen Regeln. Sie hatten die tatsächlichen Feindschaften hinter der Maske des Höflings zu verstecken. Die offenen zu verbergen, und die verborgenen verborgen zu halten. Das gesprochene freundliche Wort war Tarnung so sehr wie Puder, Parfum und Perücke. Es verbarg den feindlichen Gedanken. Da der Höfling nicht weiß, wer tatsächlich Freund, wer Feind ist, muß er jeden behandeln, als wäre er Freund, und vor jedem  als möglichem Feind auf der Hut sein (2).
     Als Erbe des Höflings, der ein Heuchler sein musste, um zu überleben, blieb Höflichkeit lange ein Synonym für Verstellung. Es dauerte einige Generationen, bis auch die bürgerliche Gesellschaft, die die aristokratische verdrängt hatte, sie als einen eigenen Wert entdeckte, und übernahm. Denn in ihr trat an die Stelle des Kampfes der Höflinge um die Gunst des Fürsten, von der ihre Stellung abhing, die Konkurrenz der Wirtschaftsbürger, deren ökonomischer Erfolg am Markt über ihr gesellschaftliches Sein entschied.
     Gegenwärtig also bezeichnet das Wort Höflichkeit nicht mehr die courtoisie, oder streng höfische Sitte, sondern die Gewohnheit und Kunst in jeglicher Beziehung von Menschen zu Menschen, im Reden, wie im Handeln, stets den zu treffenden Ton zu finden und anzuschlagen. Ihr sind die Begriffe Behaglichkeit, Unbefangenheit, Behendigkeit, Anstand, Freundlichkeit, Bereitwilligkeit, Dienstwilligkeit, Ehrerbietung und jener allgemeine Ton untergeordnet, welcher alle vorangenannten Eigenschaften, gleich einem musikalischen Grundtone, mit einander verknüpft und harmonisirt. Ihr Prinzip ist stets dasselbe: der gütige, der positive Wille (3). Als der Baron von Rumohr diese Bestimmung 1834 formulierte, gab es noch Höfe, und die sich gerade ausbildende bürgerliche Gesellschaft hatte noch nicht ihre endgültige Form gefunden, die erst mit der Industrialisierung der Ökonomie ausgeprägt werden sollte.
     Ein spätes Echo jener Fragwürdigkeit des ‚Höfischen’ als Ursprung der Höflichkeit ist das Unbehagen, mit dem man noch heute einen Zeitgenossen als „ausgesucht höflich“ gekennzeichnet findet: als verstecke sich im Lob eine Warnung vor Arroganz und Verstellung, die Unehrlichkeit und Bosheit verhüllen.
     Der Kleinbürger, zu dem die Nutznießer der Weltwirtschaftsgesellschaft wurden, seitdem der liberale Kapitalismus verschwand, dessen gesellschaftliche Stellung das ökonomische System für ihn festlegt, ohne seinen individuellen Einsatz dabei mehr zu berücksichtigen, darf in ihr nur noch eine unverbindliche Altertümlichkeit sehen: Rentnernostalgie.
     Niemand wirft einem mehr einen Handschuh vor die Füße, niemand schickt mehr einen Fehdebrief. Die Codes der Auseinandersetzung haben sich nicht nur geändert, sie sind bei gleichzeitiger Abnahme von Subtilität und symbolischer Präzision verborgener geworden, als sie es in den Zeiten einer streng geordneten Gesellschaft waren und sein mußten, da jeder seine klar bestimmte Position, seinen Rang und seine Funktion besaß. Im Zeitalter des universalen Kleinbürgertums, in dem Rang als symbolischer Wert ebenso verloren gegangen ist wie Ehre, gibt es nur noch den einen, auf alles angewandten Wert der ökonomischen Potenz, über die von der eigenen Stellung im Verwertungssystem der monetarisierten Ökonomie entschieden wird: Besitz an, oder Verfügungsgewalt über, Geld weist nun jedem seinen Ort in der Gesellschaft an.
     Nun wird auch der ‚Wert’ des einzelnen Menschen zum Posten betriebswirtschaftlicher Kosten-Nutzen-Kalkulationen. Nur der, der in einer solchen Kalkulation einen Platz auf der Nutzen-Seite einnimmt, verfügt über gesellschaftlichen Wert. Der ‚menschliche Faktor’ ersetzt den Menschen (4).
     In der Folge verschwinden die konkreten Menschen. Wer nicht nachweislich Teil einer Bilanzoptimierung ist, dessen Existenz hat keinen gesellschaftlichen Ort mehr: er wird zur Last des Überflüssigen. Der Mensch ist zum Störfaktor der Bereicherungsökonomie geworden. Sie kennt nur noch eine Regel, deren erfolgreiche Befolgung das Recht auf gesellschaftliches Dasein garantiert: setz dich durch, mit allen Mitteln, und erhöhe den Profit dessen, für den du deine Arbeitskraft einsetzen darfst, und verzichte auf deinen Anteil an deren Ertrag.
     Nichts könnte dazu in größerem Gegensatz stehen als die Grundlage der Höflichkeit: die bedingungslose Anerkennung des Seinsrechts des Anderen. Wer sich höflich verhält, übt Toleranz in der direkten Begegnung mit einem Andersartigen. Höflichkeit als Daseinsanerkennung wird zur Grundlage gesellschaftlichen Miteinanderlebens, wenn sie in allgemeiner Gegenseitigkeit praktiziert wird.
     Ihr Gegenteil, hat die Gleichgültigkeit zum Wesenskern, deren äußerste Konsequenz das Einverständnis mit dem Nichtsein des Anderen ist: mit seinem Tod. Die Unhöflichkeit ist dem Faustrecht im Bürgerkrieg aller gegen alle so nah, wie die Höflichkeit dem Recht der zivilisierten Gesellschaft, die jedem ihrer Mitglieder das Recht auf Leben gewährleistet.
     Da alle füreinander ausschließlich Konkurrenten sind, begegnen sie einander unablässig mit heimlichen Schlichen einer informellen Gegnerschaft, die nicht offengelegt werden darf. Das letzte Tabu nach der Enterotisierung der Sexualität in einem allgegenwärtigen Körperkult ist die tatsächliche Unverträglichkeit aller füreinander, deren Beziehungen vom ökonomischen Grundsatz der ausnahmslosen Konkurrenz bestimmt werden.
     Niemand muß der verborgenen Feindschaft auf Schritt und Tritt so gewärtig sein wie der ‚Parteifreund’, nach dessen Funktionärsposten unablässig mehr Konkurrenten gieren, als er kennen kann, vor deren heimlicher Illoyalität keine gemeinsamen ‚Grundüberzeugungen’, kein Einstehen für eine ‚gemeinsame Sache’ mehr schützen, seit das ‚Gemeinwohl’ zum Spielball des Postenkungelns einer Gemeinheit aller gegen alle zum Zweck der Optimierung des Wohles einiger gegen das der vielen verkam.
     Die Verweigerung der Höflichkeit, die kalkulierte Geste der Unhöflichkeit ist gleichbedeutend der Erfindung eines Feindes. Der herausfordernde Blick, der Blick, der übersieht, wo gesehen werden sollte, die ironische oder höhnische Bemerkung, das Schweigen, das die schuldige Antwort versagt, die gezielte Ignoranz gegenüber der Leistung aller, die keiner ‚pressuregroup’ angehören, entwerten nicht nur, sondern entwirklichen den, dem sie gelten.
     Jede Feindschaft ist in ihrem Kern Todfeindschaft: ihr Gegenstand soll nicht sein. Der Feind ist der Andere, der nicht sein soll, weil er das eigene Sein in Frage stellt. Wie sehr die Stimmung in der Gesellschaft der Bereicherungsökonomie unterschwellig von der Sehnsucht nach Feindschaft beherrscht ist, verrät der nicht mehr nur unter Teilnehmern wochenendlicher Management-Seminaren beliebte ‚killer’-Instinkt, der zu ‚Führungspositionen’ angeblich besonders geeignet macht.
     Unhöflichkeit ist die latente Aggression, die auf den Anlaß lauert, hervorzutreten. Sie signalisiert die Bereitschaft zur Feindseligkeit. Sie warnt: sieh dich vor, ich beobachte dich, und warte auf deinen Fehler, der mir ermöglichen wird, dich offen als den Feind zu behandeln, als den ich dich sehen will. Unhöflichkeit ist das Herausforderung zum Konflikt durch den, der davon überzeugt ist, aus ihm als Sieger hervorzugehen.
     Höflichkeit dagegen ist Freundschaft auf Distanz zwischen Fremden. Auf Gegenseitigkeit geübt, macht sie die gemeinsame Welt für ihre Angehörigen freundlich. Ihre Gesten signalisieren den Verzicht auf Feindseligkeit.
     Höflichkeit kann nur üben und erfahren, wer den anderen als Person wahrnimmt, und von ihm als Person wahrgenommen wird. In der Gesellschaft des totalen ‚homo oeconomicus’ jedoch darf jeder alle nur noch in ihrer System-Funktion wahrnehmen.
     In ihrer Ausdehnung auf alle Lebensbereiche hat die Totalisierung der ökonomischen ‚Werte’ die alte humane Trennung von gesellschaftlichem und privatem Leben aufgehoben. Privatleben wurde tendenziell aozial. Wer auf seiner Privatsphäre besteht, gibt zu erkennen, dass er sich dem Anspruch der totalen Verwertung seiner Person widersetzt.
     Der medial existierende Mensch ist der öffentliche Mensch, sein Modell der ‚Prominente’, dessen Intimsphäre unablässig veröffentlicht wird. Höflichkeit dagegen ist Achtung für die Sphäre des Privaten, in der einer unabhängig von seiner gesellschaftlichen Funktion sein kann, was er als Person ist.
     Der höfliche Mensch, der sich nicht nur höflich verhält, sondern höflich ist, nimmt den anderen, mit dem er in Beziehung steht, vor der Blöße seiner Wahrheit in Schutz. Gegenseitig geübt, ist die Höflichkeit eine Rückversicherung gegen Enttarnung unverzichtbarer ‚Lebenslügen’. Die Wahrheit zu verbergen, sie hinter Vorhängen zu halten (5), ist eine Geste der Humanität als gegenseitige Schonung. Der Höfliche übersieht, was sein Gegenüber in Verlegenheit setzen müsste, würde es bemerkt; der tüchtige Funktionär der totalen Ökonomie nutzt es im allumfassenden, nie ausgesetzten und keine Lebenssituation auslassenden Konkurrenzkampf gezielt für seine Zwecke aus.
     So verkehrt der Unhöfliche die Aufmerksamkeit, mit der Höflichkeit verwirklicht wird, in ihr Gegenteil.
Die Aufmerksamkeit ist keine Regel, die man kennt und einhält oder verletzt; sie gehört zum Fundament der Person. Aufmerksamkeit ist eine Grundhaltung des Menschen der Welt gegenüber. Der Aufmerksame hat sich entschlossen, nicht sich selber, sondern die ihn umgebenden Phänomene zu betrachten, man könnte auch sagen, sich selbst ausschließlich im Spiegel der anderen wahrzunehmen. Er blickt die Menschen, die ihm begegnen, an. Diese Menschen sind ihm wichtig. (…). Nur, dass der Aufmerksame von ihnen nicht profitieren möchte. Seine Aufmerksamkeit ist seine Natur. Es ist wichtig, Menschen zu erkennen, sie haben ein Recht darauf. (…). Der Aufmerksame hat nicht vergessen, wer eine Fischallergie hatte; er wird dem Elternpaar, das Kummer mit seinen Kindern hat, nicht von den Erfolgen der eigenen berichten; er kennt die Stellen im Zimmer, an denen am wenigsten Zug herrscht, und weiß, wen er dorthin platzieren wird (6).
     Nur dort, wo die Aufmerksamkeit am wichtigsten ist, in der exklusiven Liebesbeziehung, die die Welt ausschließt, gibt es keine Höflichkeit, weil sie verhinderte, ihr größtes Bedürfnis nach größtmöglicher körperlicher Nähe zu befriedigen. Hier kann das grobe Wort die letzte Distanz zum Verschwinden bringen, das im gesellschaftlichen Umgang die Distanz herstellt, die der, dem es gilt, nicht einzuhalten bereit ist.
     In einer Welt, die durch unablässige Zunahme der Bevölkerung für jeden Einzelnen immer enger wird, muß die Fähigkeit, sich die anderen im Umgang mit ihnen vom Leib zu halten, wie sie sich in der Frühzeit der bürgerlichen Gesellschaft als Selbstbildung des Individuums ausprägte und einen neuen gesellschaftlichen Kodex akzeptierter Umgangsformen entstehen ließ, aufs neue zu einer Grundfähigkeit all derer werden, die sich die Lebensform des Individuums bewahren wollen. Abstand zu halten, wird zum Handgriff einer neuen Kunst gesellschaftlicher Virtuosität, Nähe so zu dosieren, dass sie einen nicht von sich selbst fern rückt, ohne dabei ins Hintertreffen im totalen Konkurrenzspiel zu geraten, dessen Erfolg oder Mißerfolg darüber entscheidet, welche Lebensform man sich leisten kann.
     Das Verschwinden der Höflichkeit als selbstverständliche Umgangsform signalisiert ein Verblassen des Gemeinsinns, dessen Schwäche nichts anderes ist als eine Erscheinungsform der Lebensschwäche.
     Aber auch die Lebensklugheit gebietet uns höflich zu sein, und nicht verdrießlich zu schweigen, oder gar Verdrießliches zu erwidern, wenn irgend ein schwammiger Kommerzienrat oder dürrer Käsekrämer sich zu uns setzt, und ein allgemein europäisches Gespräch anfängt mit den Worten: „Es ist heute eine schöne Witterung.“ Man kann nicht wissen, wie man mit einem solchen Philister wieder zusammentrifft, und er kann es uns dann bitter eintränken, dass wir nicht höflich geantwortet: „Die Witterung ist sehr schön.“ (7).
     Der grenzenlose Egoismus muß diese ‚Lebensklugheit’ verlieren, die auf dem einfachen Bewußtsein der Unmöglichkeit beruht, alleine zu leben. Wer die anderen aus seiner Gesellschaft ausschließt, schließt sich selbst aus der Gesellschaftlichkeit aus, die darauf beruht, dass der Mensch ein Lebewesen der Selbstbehauptung auf Gegenseitigkeit ist.
 
 
(1) Heinrich Heine, Italien (1828), in: ders., Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, Bd. 3, Ffm-Berlin-Wien 1981, 311-389; 315
(2) Gracian, Balthasar, Handorakel und Kunst der Weltklugheit (1647), dt. von Arthur Schopenhauer, Stuttgart 1978
(3) Carl Friedrich von Rumohr, Schule der Höflichkeit für Alt und Jung, 2 Bde., Stuttgart-Tübingen 1834/35; 51 f.; 53
(4) François Emmanuel, Der Wert des Menschen. Roman, München-Zürich 2002
(5) Andreas Steffens, Hinter Vorhängen oder Von der Wahrheit, in: ders., Gerade genug. Essays und Miniaturen, Wuppertal 2010, 13-18
(6) Asfa-Wossen Asserate, Manieren, Ffm 2003, 39 f.
(7) Heine, Italien, 315
 
 
Andreas Steffens, Schriftsteller und Philosoph; lebt in Wuppertal; 2009 Träger des Springmann-Preises; 2010 erschienen von ihm im NordPark Verlag >Gerade genug. Essays und Miniaturen< und >Vorübergehend. Miniaturen zur Weltaufmerksamkeit<. Soeben erschien dort: >Ontoanthropologie. Vom Unverfügbaren und seinen Spuren<, sowie im Athena-Verlag die kunstphilosophische Studie >Selbst-Bildung. Die Perspektive der Anthropoästhetik<