Im Laufschritt auf der Stelle

Katrin Lindner inszeniert in Wuppertal Felicia Zellers „Kaspar Häuser Meer“

von Martin Hagemeyer

Foto © Frank Becker
Im Laufschritt auf der Stelle
 
Katrin Lindner inszeniert in Wuppertal
Felicia Zellers „Kaspar Häuser Meer“
 
 
Inszenierung und Bühne: Katrin Lindner – Künstlerische Mitarbeit Bühne: Sarah Bernardy – Kostüme: Svenja Göttler – Dramaturgie: Sven Kleine.
Besetzung: Anika: Anne-Catherine Studer – Barbara: An Kuohn – Silvia: Julia Wolff

„Wenn du wüßtest, du Spießer“, sagt die Sozialarbeiterin, „wenn du mit deinem FÜR HEUTE SIND SIE ZU SPÄT wüßtest, daß ich, bevor ich zu deinem blöden Laden gehetzt bin, ein Kind aus der absoluten Hölle EIN KIND, DAS VOR ANGST UND SCHMERZ AUßER SICH GERÄT, SOBALD MAN ES ANFAßT aber das sage ich natürlich nicht!“ Eigentlich sagt Silvia, die Sozialarbeiterin vom Jugendamt, recht viel – ebenso wie ihre Kolleginnen Anika und Barbara. Mehr noch: Die drei Personen in Felicia Zellers „Kaspar Häuser Meer“ überschlagen sich geradezu im Reden, verschlucken halbe Sätze, wiederholen. Und doch –  gegenüber dem, was sie in ihrem Berufsalltag erleben, sind sie sprachlos.
 
Das Stück der 1970 geborenen Dramatikerin ist eigentlich eine moderne Tragödie: Die Beamtinnen vom Jugendamt sind hoffnungslos überlastet zwischen Bürokratie und permanentem Druck, sich vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen; doch damit können sie nicht verhindern, daß immer wieder Kinder verwahrlosen oder sogar umkommen – und sie wissen es. Vergeblichkeit – Regisseurin Katrin Lindner versteht es, dieses Thema sichtbar zu machen. Schon die Reden der Figuren wirken einerseits gehetzt, zeigen durchsetzt mit abgeklärt klingenden Vokabeln („zuallervorderst“, „intensivst“) aber auch, daß die Damen sich der Bedeutung ihrer Arbeit bewußt sind. Ohne Chance, aber mit Stolz – diesen Aspekt des Textes setzt die Regie konsequent in Bühnenhandlung um. Die Darstellerinnen Anne-Catherine Studer (Anika), An Kuohn (Barbara) und Julia Wolff (Silvia) sind ständig in Bewegung: Sie stolzieren mit Megaphonen in der Hand einher, erklimmen die beiden Podeste der Bühne, kippen um, stehen wieder auf. Die drei agieren, wie sie reden: Bei aller Hyperaktivität scheinen sie zu wissen, was sie tun.
 
Wären da nicht immer wieder die Momente der Hilflosigkeit: Barbaras Traum vom Spanienurlaub in einer menschenleeren Gegend macht ein akuter Fall von Kindesmißhandlung zunichte; Silvia wird lebensmüde; und der jungen Anika wächst ihre Arbeit so sehr über den Kopf, daß sie sich selbst vorwerfen lassen muß, sie vernachlässige ihre Tochter. Trotz allem Ernst reizt der vorgeführte Aktionismus dadurch auch zum Lachen, und so ist es auch ein komischer Abend.
 
Alle Schauspielerinnen überzeugen und geben dem stark stilisierten Text Charakter: An Kuohn präsentiert Barbara mit Intensität als die ausgeglichenste des Teams. Anne-Catherine Studers Anika ist dünnhäutig, aber sehr ernsthaft und berührend. Julia Wolff gibt der Silvia mitten im Plaudern unerwartete Ausbrüche von Leidenschaft. Sie hat ein Alkoholproblem, ist einem Mißbrauchsverdacht nicht nachgegangen und zerbricht schließlich an der schweren Verantwortung ihres Amtes. An ihr wird die resignative Aussage des Stücks am deutlichsten: Man kann viel tun und doch nichts erreichen.
 
Weitere Informationen unter: www.wuppertaler-buehnen.de

Redaktion: Frank Becker