Verborgene Sinne

Rede zur Eröffnung der Ausstellung Rob de Vry, Masaki Yukawa

von Andreas Steffens

Foto © Frank Becker
Verborgene Sinne
oder
Der Stoff der Malerei
und die Tiefe der Oberfläche
 
Rede zur Eröffnung der 123. Ausstellung der Stadtsparkasse Wuppertal:
Rob de Vry, Masaki Yukawa
02.03.2011
 
 
 
Geheimnisvoll: was sich den Blicken preisgibt, ohne sich zu enthüllen.
Maurice Blanchot, >Warten Vergessen<
 
 
Etwa zur selben Zeit, als es mich als kommunaler Binnenwirtschaftsmigrant in den nahen Osten, nach Wichlinghausen, verschlug, liess ein aus Fernost kommender Künstler sich nur wenige Strassen entfernt nieder. Aber erst mit der Vorbereitung dieser Ausstellung erfuhren Masaki Yukawa und ich voneinander.
Wenn das Fernste nah rückt, tritt es in die Nähe ein, die fern ist. Das Nahe aber wird zum  Fernsten, wenn es sich nur um ein weniges entfernt.
Eine für diese Stadt nicht untypische Erfahrung. Sie, in der so vieles im Verborgenen wirkt, hält sie für ihre Einwohner immer wieder bereit. Wohl auch deshalb findet man Wuppertaler in aller Welt. Aber eben auch: alle Welt in Wuppertal. Was sie gerade nicht zu einer Allerweltsstadt macht. Auf topographisch engstem Raum begegnen sich in ihr weltumspannend ferne Kulturen. So hießen denn auch zwei der wichtigeren Ausstellungen, die dieses Haus ausrichtete, folgerichtig 1994 „Fremde wahrnehmen“, und 2000 „Über Grenzen gehen“.
Da lebte Rob de Vry bereits seit einigen Jahren im Tal. Aus Holland gekommen, hatte er nicht nur eine eigene Tradition der westlichen Moderne, sondern auch manchen Aufschluß über deren Ursprünge dabei. In einem unserer ersten Gespräche begeisterte er sich so intensiv und detailversessen über einen unbekannten holländischen Maler, dass ich mir vornahm, von diesem „van Hoch“ alles in Erfahrung zu bringen - bis mir aufging, dass er von der Urfigur der malerischen Moderne sprach, die in deutscher Maulfaulheit „van Goch“ heißt. Was er mir da an ihm zu sehen gab, war allerdings ein tatsächlich unbekannter Maler.
Da sprach nicht nur der Dozent, der er lange war; da sprach ein von seinem Metier Durchdrungener. Ein von der Malerei faszinierter Maler. Und das zu einer Zeit, in der Maler sich darin überboten, die Malerei zu verachten.
Mit seinem reinmalerischen Eros widerstand Rob de Vry noch gut ein Jahrzehnt länger dem Aufstand der Antimalerei. Bis auch er in die Krise geriet. Die Suche nach der eigenen Geste in der Aneignung letzter Ausläufer des abstrakten Expressionismus wollte nicht recht in die eigene Malerei führen.
Bald darauf sollte seine sich tief in die Faktur der historischen Malerei versenkende Aufmerksamkeit ihm den eigenen Weg öffnen, und er begann mit seinem Projekt einer Malerei über Malerei: darauf gerichtet, das Unbekannte, Ungesehene am Allzubekannten auf eine Weise zur Sichtbarkeit zu gestalten, dass daraus neue Malerei entsteht: eine zeitgenössische Malerei aus den Tiefen ihrer Geschichte.
Nicht gerade ungeübt im Betrachten von Bildern, ist es mir nicht gelungen, den Ausschnitt zu identifizieren, den das kleine Gemälde zeigt, das ich aus der ersten, Vermeer gewidmeten Serie dieser Wahrnehmung von Malerei mit dem Pinsel besitze – und schon lange will ich es auch gar nicht mehr wissen, liegt doch gerade in der Herstellung von Geheimnis eine der besonderen Qualitäten dieser Malerei. In ihr zeigt das Offensichtliche sich als mit dem Verborgenen verschworen.
Ihre Geschichte ist der Stoff der Malerei. Er hat den Maler schon verpflichtet, bevor er seine Materialien in die Hand nimmt. Kunst geht aus Kunst hervor, indem ihr Produzent seine eigenen Erfahrungen auf die in den schon existierenden Werken enthaltenen bezieht.
Anhand eines ihrer dauerhaftesten Sujets, des gewebten Stoffes, der Draperien, macht de Vry seine Malerei zu einer Forschung über Malerei, indem er den mikrologisch wahrgenommenen gemalten Stoff makrologisch noch einmal bildet.
‚Schön’ sind diese Bilder. Schön und feierlich. Und von einer unbändigen Lust an der Materie der Malerei durchdrungen. Einer Lust, die nur auskosten kann, wer ihre Techniken vollkommen beherrscht.
Wie der Geologe in die gefalteten Erdschichten eindringt, so der Maler, der seine Bilder schichtet, in die Struktur der Wahrnehmung der malerisch gesehenen Welt.
Die Welt aber ist das Verborgene. Verborgen wie das, was die Stoffe bedecken, verborgen wie das, was sich in ihren Falten, Säumen und Schichtungen einnistet.
Die Falte hat ihre Potenzen noch längst nicht ausgeschöpft: sie ist ein guter philosophischer Begriff (Deleuze, 59), bemerkte der französische Philosoph Gilles Deleuze anlässlich seines Buches >Die Falte. Leibniz und der Barock< von 1988.
Wie sehr die ‚Falte’ auch ein guter malerischer Begriff sein kann, führen de Vrys ‚Draperien’ vor Augen. Deren ‚Stoff’ ist die Metapher dessen, was die Malerei in sich zu finden hofft.
In ihrer malerischen Erforschung, deren Bezüge von van Eyck über Watteau bis zu Beckmann und Baselitz reichen, kehrt das späte Erbe der Metaphysik des Barock noch einmal wieder: eben das Seinsmodell der ‚Falte’, in der die Ordnung der Welt verborgen liegt: immer anwesend, und nie verfügbar. Daher ihr Geheimnis, das sich in der Rätselhaftigkeit der Ausschnitte bekannter Bilder spiegelt, die man sieht, ohne sie zu erkennen, obwohl man sie alle kennt.
 
Der Gegensatz könnte größer nicht sein, und nicht aufschlussreicher, der sich dem Betrachter aufdrängt, der die fernöstliche Kunst Masaki Yukawas in der Gegenüberstellung dieser Ausstellung wahrnimmt. In ihrer Formstrenge repräsentiert sie einen Osten, der über die Ordnungsgewißheit noch zu verfügen scheint, an die wir nicht mehr glauben mögen.
In Europas erster Kultur, der griechischen Antike, hieß die geordnete Welt KOSMOS. Je länger seine zweite, nachmittelalterliche Kultur sich seiner Erforschung widmete, desto ungewisser jedoch wurde seine Ordnung, bis sie sich schließlich in den Un-be-greiflichkeiten der Quanten- und Elementarphysik nahezu auflöste.
Es muß dieser Schwund von Ordnung gewesen sein, den er in der europäischen Kultur erlebte, was den japanischen Philosophen Junyu Kitayama (1902-1962) um so deutlicher genau das als Inbegriff der japanischen Kultur empfinden ließ, was der europäischen verlorenging. Schüler von Husserl und Jaspers, schrieb er in seinem 1941 in Berlin erschienenen – und übrigens auf Deutsch geschriebenen – Buch >West-Östliche Begegnung<: Der Ostasiate (...) sieht zuerst und bei sich selbst an Stelle des Lichtes, das ihn und seine Welt unmittelbar beleuchtet, den Schatten des Kosmos. (...) Darum bemüht sich jeder Künstler (...), den Raum in seiner Eigenschaft eindeutig zu machen und zugleich die Unfaßbarkeit der ganzen Räumlichkeit anzudeuten. (...). Denn der Raum hat keine Perspektive, sondern nur das menschliche Auge.
Ein knappes Jahrzehnt zuvor hatte Tanizaki Jun’ichiro in seinem berühmten >Lob des Schattens< die entsprechende Farbästhetik einer ebenso subtilen wie strengen Zurückhaltung beschrieben. Wir erfreuen uns an jener zarten Helligkeit, die entsteht, wenn ein bereits diffuses Außenlicht allenthalben die dämmerfarbigen Flächen überzieht und nur mit Mühe einen Rest von Leben bewahrt.
Das liest – und hört – sich wie für die Bilder Masaki Yukawas geschrieben.
Während die überbordende Farb- und Formfülle de Vrys den Zerfall des Kosmos paradox widerspiegelt, beschwört Yukawas Askese dessen ungebrochene Integrität. Hier die stille Farbverhaltenheit in klarer, rational-geometrisch gefügter Ordnung, dort das flirrend bewegte Variationsspiel der Formenmetamorphosen einer Geschichte der Malerei, die desto weniger zu wissen scheint, was Malerei ist, je länger sie dauert. Je weniger wir wissen, desto mehr müssen wir erkennen; je mehr wir aber erkennen, desto gewisser wird es, erst wenig zu wissen. In diese Leere tritt die Fülle der Bilder.
Einen solchen Zweifel kennen Yukawas Bilder nicht. Denn ist nicht immer schon gewusst, was sich überhaupt wissen läßt? In ruhiger Selbstgewissheit lassen sie in ihrem geometrischen Spiel asketisch reduzierter Farbschatten den Raum des Sehens selbst in dem Blick entstehen, der kontemplativ auf ihnen ruht.
Den von elektronischer Oberflächlichkeit geprägten zeitgenössischen Blick muß das irritieren. Denn damit wird die Situation der elektronischen Oberflächenwahrnehmung umgekehrt: an die Stelle einer Vortäuschung von Tiefe und Plastizität tritt eine malerische Räumlichkeit, die ihre eigene Tiefe an einer reinen Oberfläche verbirgt. Das macht Yukawas Bilder zu denkbar genauen Gegenstücken zu denen de Vrys, die an ihre eigene Oberfläche heben, was sich in den Tiefen ihrer historischen Vor-Bilder verbirgt.
Spiel mit der Illusion ist beides. Aber einer Illusion, aus deren Virtuosität immer und nur hervorgeht, worauf wir uns als auf unsere Welt beziehen können.
Die Welt des Ostens, die Welt des Westens - in diesen beiden individuellen Ausprägungen ihrer jeweiligen Bild-Traditionen zusammengesehen, veranschaulichen diese beiden Bild-Praktiken das Problem einer möglichen Kultur der einen Welt, die die Propagandisten der ‚Globalisierung’ beschwören.
Sollte es diese eine Welt eines Tages tatsächlich geben, wird eines ihrer Kennzeichen sicher eine Kultur der Oberfläche sein. Mit ihrer Malerei, die zeigt, wie Bilder zeigen, was sich sehen läßt, tragen diese beiden Maler zu deren Vorbereitung bei.
Es ist solche Kunst des Sehens, die jene Einsicht ermöglicht, die Durs Grünbein in seinem großen Gedicht >Vom Schnee< den jungen René Descartes in einem langen, tiefen deutschen Winter seinen Diener zu lehren bemüht sein läßt:
 

„Du sollst begreifen, dass, was du vor Augen hast,
Nur ein Effekt ist deiner Sinne. Welt entsteht
So schnell, wie du sie auffasst – frei nach Augenmaß.“

 

Literatur:
 Bense, Max, Die kreative Autoreproduktivität der Kunstwerke, in: Paul Wunderlich, Bilder über Bilder von Manet, Stuttgart 1978
Blanchot, Maurice, Warten Vergessen (1962), Ffm 1964; 2006
Deleuze, Gilles, Die Falte. Leibniz und der Barock (1988), Ffm 2000
Deleuze, Gilles, Zeichen und Ereignisse (1988), in: Francois Ewald, Hg., Pariser Gespräche, Berlin 1989, 33-59
Flusser, Vilém, Die Welt als Oberfläche, in: ders., Medienkultur, Ffm 1997
Gadamer, Hans-Georg, Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest,, Stuttgart 1977
Jun’ichiro, Tanizaki, Lobe des Schattens. Entwurf einer japanischen Ästhetik (1933), Zürich 1987
Kitayama, Junyu, West-Östliche Begegnung. Japans Kultur und Tradition, Berlin 1941
Steffens, Andreas, Verschränkung der Traditionen im Virtuosenspiel. Zur Legitimität einer historisierenden Transavantgarde, in: zeitmitschrift. Journal für Ästhetik 2, Düsseldorf 1986, 191-197
Steffens, Andreas, Gemalte Essays über Malerei. Rob de Vrys Vermeer-Studie (MS 1996)
Steffens, Andreas, Verborgene Sinne: Die Verborgenheit der Sinne und die Sinnlichkeit der Malerei, in: Rob de Vry - Masaki Yukawa, Katalog der 123. Ausstellung, Stadtsparkasse Wuppertal 2011
 
 Redaktion: Frank Becker