Zauberlehrlinge

Ein Zwischenruf

von Peter Bilsing und Frank Becker
Zauberlehrlinge
 
Kann man so einfach zur Tagesordnung übergehen, wenn nach einem Jahrhundert-Erdbeben und einem darauffolgenden zerstörerischen Tsunami im japanischen Katastrophengebiet nun vielleicht Millionen Menschen von nuklearer Strahlung oder gar von qualvollem Strahlentod bedroht sind? Wir können es nicht. Auch angesichts der Tatsache, daß wir und all die betroffenen Menschen von der japanischen Regierung anscheinend (wie damals in Rußland bei der Katastrophe von Tschernobyl) schamlos belogen und in trügerische Ruhe gewiegt werden. Wer dem japanischen Botschafter im Fernsehen zuhörte, der konnte den Eindruck gewinnen, daß es sich wohl nur um einen kleinen Angelunfall handelte. Und wie reagieren unsere Staatsoberen, allen voran Märchentante Merkel?
 
Anruf im Bundeskanzleramt vorgestern Abend: „Damit eines klar ist, Frau Merkel, wenn Sie die soeben beschlossene Laufzeitverlängerung unserer AKW wieder zurücknehmen, dann gehen in Deutschland die Lichter aus!“ Die Kernkraftwerksbetreiber machen Druck. „Außerdem werden wir die Strompreise dann verdoppeln!“ Fiktion. Könnten Sie sich dennoch vorstellen, verehrte Leser, daß es so was gegeben haben könnte? Wir schon, denn wir wissen ja, daß Atomkraftwerke für die Betreiber wahre Gelddruckmaschinen sind. Warum soll unsere Kanzlerin hier anders reagieren, als bei den großen Banken? „Ich regele das schon! Eure Millionengewinne bleiben Euch erhalten!“ scheint sie gesagt zu haben, als Sie daraufhin vor die Presse trat und stolz verkündete, die deutschen AKW noch einmal sicherheitstechnisch überprüfen lassen zu wollen. Gestern dann ein politisch verängstigtes, aber nicht überzeugendes Zurückrudern mit der Ankündigung, die Laufzeitverlängerungen (nein, nicht zu kassieren!) auszusetzen. Klingt irgendwie nach dem sattsam bekannten Merkelschen Aussitzen. Beschwichtigende Absichtserklärungen, die weniger wert sind als das Papier, das bei uns rechts von der Toilette hängt. 
 
Vor ein paar Wochen, als die Verlängerung der Laufzeiten auf durchschnittlich 25 weitere Jahre verkündet wurde, warf sich Merkel mit der bekannten beleidigt lächelnden Trotzgebärde in die Brust - hatten ihr doch die Kraftwerksbetreiber eingeflüstert, daß alles golden sei. Wie kann es jetzt sein, drei Tage, nachdem sie diese trügerische Sicherheit noch einmal beschworen hat, daß man "Risiken neu bewerten" muß? Hat man sie vorher falsch bewertet? Und wieso? Das stinkt doch. Was macht unsere Regierungs-Chefin nach der Wahl in Baden-Württemberg noch Neues? Vielleicht wandert sie, wie weiland Herrenreiter und Bundespräsident Carl Karstens, die deutschen AKWs noch mal fröhlich pfeifend ab um dann hinterher stolz zu verkünden: „Also ich habe kein Leck entdeckt! Unsere Kernkraftwerke sind sicher.“ - Todsicher! Wer gestern Abend im Heute-Journal des ZDF das peinlich unappetitliche Herumwinden von Stefan Mappus um die Antwort auf die Frage, ob den nun Neckarwestheim abgeschaltet werde und bleibe erlebt hat, wird diesem "Politiker", dem ja vielleicht ein Aufsichtsratsposten bei EnBW winkt, nie mehr ein Wort glauben können.
Uns bedrückt das sehr. Uns bewegt auch die Frage, wie gefährlich schwachsinnig Politiker und Industriemagnaten in Japan sein müssen, 54 (!) Kernkraftwerke im vielleicht sensibelsten Erdbeben-/Tsunami-Gebiet der Erde anzusiedeln? Übrigens: Wo sind eigentlich die hochgiftigen und strahlenden Abfälle dieser Anlagen gelandet?
 
Da freut man sich zu hören, daß RWE (Deutschlands größer AKW-Hersteller) im Chor mit der Kanzlerin nicht müde wird zu versichern, daß die BRD-Kraftwerke sicher sind. Nur eines ist sicher: daß sie nicht sicher sind. Wenn man an das nächstliegende Szenario denkt, welches garantiert 99 von 100 Terroristen schon in der Planung haben, nämlich einen gezielten Flugzeugabsturz, den kein einziges AKW überleben würde, wird einem angst und bange. Sechs ältere AKW gingen schon hoch, wenn nur ein Sportflugzeug darauf fiele. Ebenso verhält es sich beim heute noch näher liegenden Problem eines Hackerangriffs, der zum gleichen fatalen Ergebnis führen könnte.
Allein in den "absolut sicheren" und "sauberen" Kernkraftwerken Deutschlands gab es in den vergangenen 30 Jahren 4.000 Störfälle, statistisch hochgerechnet alle drei Tage einen. Sollte uns das zu denken geben?
 
Stellen Sie sich einmal vor, Ihr technisch hochgerüstetes Luxus-Auto würde, wenn man es abstellt und der separate Kühlkreislauf, der die leistungsstarke Turbine nachkühlen muß (Prinzip Siedewasserreaktor) nicht anspringt, jedes Mal explodieren. So ein Auto würden Sie doch nicht kaufen – und schon gar nicht in Ihrem Vorgarten stehen haben wollen. Die Kühlung der in Japan betroffenen, Strom produzierenden Kernkraftwerke fällt aus – zur Notkühlung braucht man aber genau den Strom, den sie vorher produzierten und nun nicht mehr liefern können. Verkehrte Welt! Und immer noch keine Demut bei den Verantwortlichen. Die "unzerstörbaren" Beton-Hüllen von zwei Reaktoren sind unter dem Druck der vermutlich längst stattfindenden Kernschmelze bereits explodiert, die Reaktoren außer Kontrolle - ein dritter Reaktor steht vermutlich ebenfalls vor der Kernschmelze, dem "Super-GAU". Erinnern wir uns: GAU steht für "Größter anzunehmender Unfall". Das bedeutet nichts anderes als die Apokalypse. Längst heben Politik und Wirtschaft mit glitzernden Augen in ihrem unverantwortlichem Hunger nach Mehr und Größer sowie mit kaum zu fassender Macht- und Geldgier die Büchse der Pandora geöffnet. Japan ist das erste Land, das die Folgen zu tragen haben wird.

Falls uns auf diese Zeilen hin Kernkraftbefürworter anschreiben werden: „Ja, wo soll denn der Strom bei uns dann herkommen, häh? Wollen Sie in ihrer kalten Wohnung sitzen?“, antworten wir: „Ja Freunde – das wollen wir! Denn wir sitzen lieber mit Pullover in einer kalten Wohnung, als in gar keiner mehr, wenn bei uns die Sache hoch geht.“ Außerdem beziehen wir gerade mal 16 % unseres Stromverbrauchs aus Atomkraftwerken. In unseren Haushalten bei ernsthaftem Willen 16 Prozent Strom zu sparen, sehen wir als eine Kleinigkeit an. Peanuts!
Warten wir die nächsten Wochen ab, wenn Kernkraftrambo Mappus (jener Ministerpräsident, der auch mal gerne gepanzerte Fahrzeuge, Tränengas und Polizisten in Kampfmontur gegen Rentner und Frauen mit Kinderwagen losschickt, um einen Bahnhofsumbau zu „schützen“) die ersten Wahlen für die Konservativen haushoch verlieren wird und die Atomkanzlerin nach und nach für ihre wirtschaftsfreundliche, aber volksfeindliche Politik abgewatscht wird. Man darf gespannt sein, wie tief dann ihre Mundwinkel hängen.

Etwas Besseres kann den Sozis, Kommunisten und Grünen (wir gehören wahrlich nicht dazu - na gut, ein bißchen Grün ist gar nicht so falsch) doch kaum passieren. Die werden die nächsten Wahlen im Schlaf gewinnen, brauchen de facto gar nichts zu tun. Na und dann? Schauen wir mal, ob die Sozis dann die Zeitbomben entschärfen. Und wenn, bleibt immer noch das: brüderlich teilen die Franzosen das Risiko ihrer gigantischen AKW mit uns, denn als wahre Freunde haben sie ihre Kernkraftwerke genau an der Grenze zum Nachbarn gebaut. Motto: Geteilter GAU ist halber GAU. Aber immerhin sichern die Franzosen ihre Komplexe mit Scud-Raketen.
Und unsere österreichischen und dänischen Freunde? Die haben gar keine AKW, auch deshalb lieben wir diese Länder so. Dennoch, auch sie sind von tickenden Zeitbomben umgeben: Tschechien (6), Ungarn (4), Schweiz (5), Slowakei (5), Slowenien (1), Deutschland (17), Schweden (10), Russland (10 mit 31 Reaktorblöcken), Ukraine (4) – Polen zögert noch.
 
Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los!“ klagt Goethes „Zauberlehrling“. Doch bei J.W. gibt es den großen Zampano, der am Ende alles wieder in Ordnung bringt. Wo ist der Hexenmeister bei uns? Hat irgendwer die Möglichkeiten oder die Vernunft, unsere Selbstvernichtung aufzuhalten? Oder hat unser blauer Planet es längst selbst übernommen, sich gegen die immer schädlicher werdende Menschheit aufzulehnen?
 
Dann gehen bei uns wahrlich bald die Lichter aus...

Redaktion: Frank Becker