Dachlast

Erzählung

von Wolf Christian von Wedel Parlow
Dachlast
 
Erst bei der elften Schule war ich fündig geworden. Ich wußte ja nur, daß er hier eine Stelle gefunden habe, an einer Schule. Aber den Namen der Schule hatte der Nachbar, der mir dort unten den Tip gab, vergessen.
Herbert Schwer? Nein, tut mir leid. Ist nicht bei uns. Ich wollte schon aufgeben, müde wie ich war nach der kurzen Nacht auf der durchgelegenen Matratze in der „Goldenen Rose“. Dann dachte ich an das höhnische Grinsen meines Chefs, wenn ich ihm das magere Ergebnis meiner Recherche vorlegen würde − und die Quittungen der angefallenen Ausgaben, Bahnfahrten, Taxi, Übernachtungen; ich, sein teuerster Mitarbeiter, wie er mich zu titulieren pflegte.
Also versuchte ich es weiter. Und dann dieses Glück. Der Schulleiter war allerdings nicht gerade begeistert.
Ja, Herr Schwer wurde gerade erst eingestellt. Worum geht es denn? Um ein Interview? Mit dem Hausmeister? Der kennt sich doch noch gar nicht aus hier, ist doch alles noch ganz neu für ihn … Ach so, es geht um diese Sache dort unten. Meinetwegen, aber nur nach Dienstschluß.
Wir hatten uns für sechs Uhr nachmittags verabredet. Ich hatte also noch etwas Zeit, um an dem Text über meine bisherigen Erkenntnisse zu feilen. Aber ich war zu aufgeregt. Die frühlingshafte Luft, und ich sollte den ganzen Tag in diesem muffigen Hotelzimmer verbringen? Also wanderte ich auf der Neuenheimer Seite den Neckar entlang bis zur alten Brücke, immer die bekannte Szenerie vor Augen, das Schloß, die Turmspitze von Heiliggeist, eine Stadt im Weckglas, dachte ich, irgendwie nicht angekommen in der Moderne.
Es war wieder einmal typisch für mich, arrogante Gedanken über meine Umgebung, um mich nur ja nicht mit mir selbst zu beschäftigen, mit der eigenen Entwicklung. Ich mußte innerlich grinsen über mich, wie gut ich diese Technik beherrschte. Das Bewußtsein immer schön dicht halten, damit einem die eigenen Schwachstellen nicht um die Ohren fliegen! Denn wie stand es mit mir? Hatte ich mich entwickelt in all den Jahren, seit ich hier zur Schule gegangen war? War ich nicht immer noch der linkische, schüchterne Junge? Ich schaute auf die Armbanduhr und war froh, daß der Termin näher rückte.

Die Souterrainwohnung war niedrig, eher ärmlich, immerhin gingen die Fenster zum Neckar raus. Aber es war gar keine Wohnung, wie Herbert Schwer mich sogleich korrigierte. Ein Aufenthalts- und Büroraum mit einer Kaffeemaschine, einer Liege, einem Tisch mit säuberlich ausgebreiteten Zetteln, vermutlich Termine von abendlichen Vorträgen, Arbeitsgemeinschaften, Elternabenden, die ihn informierten, ab wann er das Gebäude abschließen konnte.
Eine Wohnung suche er noch. So lange bleibe seine Frau dort unten im Süden.
Warum er von dort weggegangen sei, fragte ich. Er schlang die Arme um den Oberkörper. Ein offenes Gesicht mit Spuren eines ehrlichen Arbeiterlebens.
− Wie hätte ich dort bleiben können mit all den Leuten, die ein Kind oder die Frau verloren hatten?
− Hat Ihnen denn jemand Vorwürfe gemacht, fragte ich vorsichtig.
− Direkt nicht, aber ich hätte es verhindern können.
− Was, den Einsturz der Halle?
Er zögerte keinen Augenblick mit der Antwort.
− Wie denn? Nein, ich hätte mich vor die Halle stellen und die Besucher warnen können.
− Erzählen Sie doch mal von Anfang an! Wie begann der Tag?
− Was gibt es da viel zu erzählen? Es war ein ganz gewöhnlicher Tag, nur daß es immer noch schneite. Die ganze Nacht über hatte es geschneit. Ich konnte es nicht mehr sehen. Ich saß in der Küche und schaute immer nur auf die gegenüberliegende Wand, wo die Ansichtskarten von unseren Urlaubsreisen hingen. Wörther See, Plattensee, immer wieder Plattensee, einmal auch Varna, das hatten wir uns gerade noch leisten können. Meine Frau wusch ab. Das Geklapper des Geschirrs störte mich. Wie sollte ich da einen klaren Gedanken fassen? Sitz nich so da! Tu endlich was! Den ganzen Morgen hatte sie mir damit in den Ohren gelegen. Aber was sollte ich tun? Nochmals anrufen? Sie würden mich doch nur abwimmeln, wie jedes Mal. Wir haben das Gutachten, daß die Halle sicher ist. Also geben Sie endlich Ruh! Nee, das hatte alles keinen Zweck.
Er war jetzt richtig in Fahrt gekommen, es sprudelte nur so aus ihm heraus.
− Ich wollte noch mal rüber in die Halle, die Lage peilen, bevor der Einlaß beginnt. Häng einen Zettel an die Tür ‚Vor dem Betreten der Halle wird gewarnt. Einsturzgefahr!’, hatte sie vorgeschlagen. Das kann dir niemand verbieten. − Sind die verrückt geworden? Warum schließen sie die Halle nicht, wenn’s gefährlich ist, hörte ich die Leute lamentieren, im Geiste, wie man so sagt. Irgendwer hätte bestimmt bei der Stadt nachgefragt, was denn das zu bedeuten hat. Sofort wären die wach geworden. Eigenmächtigkeit! Nehmen Sie den Zettel runter, sofort! Und gekündigt sind Sie auch …
Er sah mich wie um Verständnis bittend an, legte die Arme auf den Tisch, die Hände verschlungen.
− Das hätte mir eigentlich nichts gemacht. So ne Stelle bekam ich überall. Aber Hilde wäre ungern von dort weggegangen. Ich stand auf. − Wohin willst du, fragte sie. − In die Halle, mal gucken, wie’s ausschaut. − Sie darauf: Ich leg dir schon mal n Zettel hin und Stifte. − Kannst du dir sparen, sagte ich. Ich mach das nicht. Wenn nix passiert, bin ich der Hysteriker. − Es geht um Menschenleben, schrie sie, und du hast Angst, daß sie dich auslachen. Mein Gott, Herbert!
Sie konnte einem ganz schön auf den Senkel gehen, wie sie so auf mir herumhackte. Und sie hatte immer das letzte Wort. − Wenn du den Zettel nicht willst, dann stell dich halt vor die Tür und red mit den Besuchern! Sag ihnen, was mit der Halle ist und daß der Bürgermeister sie nicht schließen will.
Die Geschichte bewegte ihn, ich sah es an seinem Blick. Mit der linken Hand kratzte er sich unkontrolliert am Hinterkopf.

Warum war so einer Hausmeister geworden? Plötzlich kam es mir so vor, als wäre ich es, der mir da gegenüber saß, nicht vom Äußerlichen her. Nein, ich sah mich in dem zaghaften Seelchen, das ihn hier hat stranden lassen. Jetzt bloß nicht rührselig werden, ermahnte ich mich, sonst würden wir noch beide zu heulen anfangen.
− Sie waren also in die Halle gegangen. Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?
− Eigentlich nicht. Es war wie immer am Morgen. Es hatte aufgehört, von der Decke zu tropfen. Es begann ja immer erst zu tropfen, wenn die Halle belegt war, wenn gelaufen wurde. All diese Ausdünstungen, die heiße Atemluft. Dann bildete sich oben an der Decke Kondenswasser. Die Sperrholzverschalung konnte einfach nicht die ganze Feuchtigkeit aufnehmen. Das liegt wohl an dem Leim im Sperrholz, ich kenn mich da nicht aus, aber soviel glaube ich verstanden zu haben. Jedenfalls bilden sich Tropfen. Vielleicht hat man auch bei der Wärmedämmung gespart. Je schwächer die ist, desto kälter die Decke und desto mehr Kondenswasser fällt an.
− Es gab doch auch Gutachter, die lehnten die Theorie mit dem Kondenswasser ab, erinnerte ich ihn. Die von den Eisläufern erzeugte Wärme sei gar nicht so groß gewesen, daß die Luft derart viel Feuchtigkeit aufnehmen konnte. Das bißchen feuchte Luft sei wie fallender Nebel wieder abgesunken, bevor sich an der Hallendecke Kondenswasser bilden konnte.
− Stimmt, es gab solche. Aber womit wollten die den Einsturz erklären?
− Mit der Undichtigkeit des Hallendachs. Das ist Ihnen doch bekannt. Sie hatten doch selbst diese Eimer an der Tribüne aufgestellt, um das von der Hallendecke tropfende Wasser aufzufangen.
− Und wenn das Kondenswasser war? Überlegen Sie doch selbst, ein Mensch, der sich sportlich betätigt, erzeugt bis zu vierhundert Watt. Dreißig Eisläufer, viel mehr waren selten in der Halle, könnten es also auf bis zu zwölf Kilowatt bringen, zwölf KW, das ist doch was.
Worüber reden Männer eigentlich, dachte ich, wenn sie unter sich waren? Männer fachsimpeln. Fußball, Auto oder eben irgend so ein technisches Problem, wie wir es gerade beackerten.
Man muß da mithalten, wenn man nicht als Außenseiter gelten will, ging mir durch den Kopf. Und die Regeln dieses Wettkampfs um das bessere technische Verständnis muß man auch beachten. Man kann nicht einfach die Gesprächsebene wechseln, von der objektiven zur subjektiven übergehen, was ich ja täte, wenn ich Herrn Schwer entgegenhielte, ich sei nicht hergekommen, um mit ihm über die Ursachen des Unglücks zu sprechen. Dazu fehle mir der nötige Sachverstand. Mich interessiere allein, wie er sich selbst verhalten habe angesichts der Gefahr.

Würde ich ihn in die Enge treiben, wenn ich so persönlich würde? Wollte ich ihn zu dem Geständnis zwingen, daß er ein Versager war? Das gehörte sich nicht unter Männern. Ich hatte in dem Moment keine Ahnung, was ich eigentlich von dem Mann wollte. Ging es vielleicht um meine eigene Selbstachtung, die ich vor Kratzern bewahren wollte? Mußte ich deshalb auch die des anderen schonen? Egal, ich mußte es trotzdem versuchen.
− Herr Schwer, warum sollen wir uns hier darüber streiten, wie es zu dem Unglück kam? Überlassen wir das doch dem Gericht und den Gutachtern! Viel mehr würde mich interessieren, was Sie selbst taten, nachdem Sie die Halle inspiziert hatten.
Ich war überrascht, wie widerstandslos er diesen Schwenk mitmachte, fast als hätte er darauf gewartet, daß wir endlich zum Eigentlichen kämen.
− Ich gab die üblichen Anweisungen. Die Eimer leeren. Die Eisfläche in Ordnung bringen. Da bildeten sich ja immer solche Warzen von den Tropfen, die auf die Eisfläche fielen. Die mußten abgeschoben werden. Na ja, und was sonst so für tägliche Wartungsarbeiten anfielen, auch im Maschinenraum.
− Gaben Sie irgendwelche Warnhinweise?
− Nein, das war ja nicht mehr nötig. Schon am Vortag hatte ich meine Mitarbeiter gewarnt, wenn sie irgendwas Verdächtiges hörten, ein Knacken oder Knirschen, sollten sie sofort zu den Pfeilern an der Hallenwand springen und die Eisläufer und Zuschauer zu sich rufen. Dort war es am sichersten.
− War denn so was schon mal zu hören gewesen, so ein Knacken?
− Angeblich ja. Zwei meiner Leute hatten so was gehört, ich selber nicht.
− Was hatten Sie noch unternommen? Hatten Sie noch mal darüber nachgedacht, was Ihnen Ihre Frau vorgeschlagen hatte?
− Was meinen Sie wohl, was in meinem Kopf herumging? Hilde hätte mir gar nichts zu sagen brauchen. Ich wußte auch so, was zu tun war. Entweder einen Zettel an die Tür oder noch besser vor der Halle mit den Besuchern reden. Ich stellte mir vor, wie ich vor der Halle stehe und sie warne, wie es mir gelingt, sie vom Betreten der Halle abzuhalten − und wie hinter mir die Halle einstürzt und wie sie mir dann um den Hals fallen. Aber ich konnte mich nicht entschließen, verstehen Sie. Es hätte ja alles falscher Alarm sein können. Und mich lächerlich machen, das wollte ich nicht.
Da war es wieder, das Gefühl, mir selbst gegenüberzusitzen. Eine Begegnung, wie wenn ich sie gesucht hätte. Aber ich konnte noch nicht in Worte fassen, was mich mit dem Hausmeister verband. Hilflos suchte ich nach einem tröstenden Wort. Aber im Grunde stieß ich ihn noch tiefer in seinen Kummer hinein.
− Ich möchte jetzt nicht in Ihrer Haut stecken, sagte ich.
− Das möchte ich Ihnen auch nicht wünschen, antwortete er rauh.
Es war spät geworden, als ich den Laptop ausschaltete. Dem Chef konnte ich den Text unmöglich vorlegen, nicht in dieser Form. Schmeißen Sie den Autor raus, würde er schreien. Was interessiert die Leser Ihr zartes Seelchen!

Ich ging mißlaunig ins Bad, begann mit dem Zähneputzen. Die Geschichte ließ mich nicht los. Es war klar, woran der Hallenwart gescheitert war, an seiner Angst vor der Lächerlichkeit. Wieso eigentlich gescheitert? Kein Mensch hatte ihm Vorwürfe gemacht, ausgenommen vielleicht seine Frau, doch die würde jetzt zu ihm halten. Nur er selbst haderte mit sich. Aber war das nicht schon genug? Ich wußte doch, Selbstvorwürfe sind das Schlimmste. Was hätte er alles verhindern können, wenn er ohne Rücksicht auf das eigene kleine Selbst gehandelt hätte! Sollen sie doch lachen über den Hysteriker!
Das dumme kleine Selbst! Was hätte es alles für seinen Träger gewinnen können! Den verdienten Lohn in Gestalt der Überschriften: „Hallenwart bewahrt Dutzende Eissportler vor dem sicheren …“ Auch im Fernsehen wäre sein Träger aufgetreten, mit seiner Frau. Letzteres allerdings nicht nur zu seinem Vorteil. Denn bestimmt hätte sie nicht versäumt zu erwähnen, sie sei es gewesen, die ihm den Tip gegeben habe. Daß sich die Frauen neuerdings auch immer vordrängen!
Das kleine Selbst, das brannte jetzt in ihm – und in mir. Hätte er ihm nicht einen Stups geben können, als es sich dermaßen aufplusterte?
Ja ja, sagte ich mir, als ich ins Bett stieg, es ist ja so leicht, diesen kleinen Popanz umzustoßen! Endlich konnte ich wieder einmal über mich lachen. Mir war eingefallen, warum ich schon lange nicht mehr in die Sauna ging. Ich wollte mich nicht den Blicken der jungen Männer auf meinen nicht mehr ganz so knackigen Hintern aussetzen. Eine gemischte Sauna wäre da schon gar nicht in Frage gekommen.
 
 
© Wolf Christian von Wedel Parlow – Erstveröffentlichung in den Musenblättern  2011