Aus dem Leben gefallen

Georges Simenon - "Der Mann der den Zügen nachsah"

von Frank Becker
Jedermann

Kees Popinga fällt eines Abends, kurz vor Weihnachten durch ein unerhörtes Ereignis aus seinem bisherigen Leben. Ähnlich der Filmfigur William Foster, 1993 von Michael Douglas dargestellt, verliert er den bürgerlichen Boden unter den Füßen und verabschiedet sich von der Realität. Georges Simenon hat das Sujet 1938 in seinem Roman "L´homme qui regardait passer les trains" entwickelt.

Ein biederer holländischer Kaufmann mit Haus, Familie, verantwortlicher Position und Mitgliedschaft in einem Schachklub läßt angesichts des Ruins seiner alteingesessenen Firma durch den betrügerischen Bankrott des Inhabers alles zurück. Dämme der über Jahrzehnte gelebten, doch nicht geliebten Wohlanständigkeit brechen. Popinga steigt aus, wirft alle Konventionen ab, wird zum Mörder, flieht nach Paris und gefällt sich in der Rolle des mysteriösen Frauenmörders und der Situation des ungreifbaren Phantoms. Alles ist für ihn, mit einem Bündel Geld in der Tasche und ohne Gepäck, wie ein Traum.

Georges Simenon zeichnet das Psychogramm eines Mannes, der von einem Tag auf den anderen aus Lebenshunger und Ratlosigkeit zum Gesetzlosen wird, der um den Preis des absehbaren Endes für ein paar Tage in eine fremde Existenz schlüpft. Er, der Zeit seines Lebens in heimlicher Sehnsucht des Nachts den vorbeifahrenden Zügen nachgeschaut, sich die Menschen in den Abteilen und ihre Ziele vorgestellt hat, wird zum ausweglos Gejagten, der sich Huren und Verbrechern anschließt, um den sich die Schlinge immer enger zuzieht - und der dennoch frei ist. Denn längst hat Kees Popinga bei trügerisch klarem Verstand eine Grenze überschritten, hinter der es kein Zurück gibt.

Simenons Roman ist ein fesselndes kleines Meisterwerk, das den Leser nicht losläßt, in einem Atemzug verschlungen werden will. Mit Kees Popinga fiebert man der -
wenn auch scheinbar vorhersehbaren - Entwicklung mit allen ihren überraschenden Wendungen entgegen. Die Menschen, deren Weg Simenon seinen Protagonisten flüchtig kreuzen läßt, sind wie Ölskizzen, mit sicheren Strichen hingeworfen, charaktervoll, einprägsam. Kees selbst wird nicht zum Sympathieträger stilisiert - Simenon gibt ihm, und das ist das Unheimliche, manifest und dennoch beinahe gesichtslos die erschreckend wiederholbare Gestalt eines Jedermann.

Die vom Diogenes Verlag aufgelegte Reihe "Ausgewählte Romane" Simenons bietet 49 weitere Meisterwerke an.

Beispielbild

Georges Simenon
Der Mann, der den Zügen nachsah

(Ausgewählte Romane, Bd. 10)
aus dem Französischen von Linde Birk

© 1981/2011 Diogenes Verlag

265 Seiten, gebunden
9,- €

Weitere Informationen:
www.diogenes.ch