Leitkultur

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Leitkultur
 
 
Sogar im Schlaf muß ich mich damit beschäftigt haben, denn ich fragte beim Aufstehen meine Frau: „Gibt es etwas, was man weder haben noch nicht haben kann?“
„Wer weiß das schon“, sagte meine Frau. „Wir sehen ja, daß es zu allererst davon abhängt, ob es denjenigen gibt, der es haben kann oder auch nicht.“
„Ich meine die Leitkultur“, sagte ich.
 
Meine Gedanken waren noch beim gestrigen Abend, wo ich mit Freunden, darunter Meryem und Adem, zusammen war. Die letzteren beiden sind Moslems, Aleviten. Sie arbeitet bei einer Behörde, er auch als Sozialarbeiter.
Es war ein gemütlicher Abend. Wir aßen eine vorzügliche Kartoffelsuppe, die Wilhelm, ein ehemaliger Bergarbeiter vom Niederrhein, gekocht hatte. Er war stolz darauf, die Suppe mit Raffinessen angereichert zu haben, darunter Sonnenblumenkerne, die er Pinienkerne nannte. Auch auf seinen Wein hatte er Grund stolz zu sein. Adem leerte fast eine ganze Flasche davon. Das durfte er als bloßer Mitfahrer bei seiner Frau Meryem.
Wir sprachen über das schreckliche Erdbeben in Japan, aber nach und nach ließen wir von dem Thema ab und plauderten über das, was uns so einfiel. Über Meryems Hund Julie – über Integration -
 
Da wurden unsere moslemischen Freunde hellhörig. Ob das integrationsfördernd gewesen sei, wenn die Kanzlerin ohne Not sagte: „Multikulti ist tot“; und ihr Minister: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“ Die Betonung und Vereinfachung verrate ihren Zweck.
„Manche Politiker sind Opportunisten“, sagte ich. „Sie wollen gewählt werden. Die Schattenseite der Demokratie.“
Und ob man jetzt mit großem Geschrei die Ausländergesetze verschärfen müsse, fragte Adem. „Tausend Asylanten im Jahr, zwanzigtausend Zuzüge aus der Türkei. In einem Achtzig-Millionen-Land? Und was ist mit der Leitkultur von Herrn Seehofer? Was muß ich da machen? Bratwürste essen? Schuhplattler tanzen? Will ich doch nicht. Aber zum Jahresanfang gehe ich immer mit einer Schulklasse aus der Nachbarschaft in die Kirche. In eure. Warum gibt es eigentlich keine deutsch-türkischen Schulen? Chinesisch-deutsche gibt es. Da lernen die Kinder einander kennen und verstehen.“
 
„Nicht so auffallen solltet Ihr“, sagte ich trotzig. „Ein anständiger Afrikaner geht still durch die Stadt. Herrn Chung, einen Asiaten also, treffe ich fast jeden Morgen beim Schwimmen. Er arbeitet als Qualitätsprüfer und schmettert mir sein „Guten Morgen“ entgegen.“
„Tun wir das nicht?“ fragt Meryem. „Weißt du, warum wir auffallen? Weil wir nicht blond sind!“
„Nein! Ich bin auch nicht blond.“
„Aber deine Frau. Hat dir doch gefallen, oder?“
„Ja, verdammt noch mal.“
„Siehst du. Ich habe aufgepaßt Und du solltest mal erleben, wie es ist, wenn man mit türkischem Namen eine Wohnung mieten will.“
Deine Leute sind es, die uns eigentlich nicht mögen“, sage ich. „Ibrahim hat mir erzählt, alle Nicht-Europäer hätten Minderwertigkeitskomplexe gegenüber den Europäern.“
 
Da weiß Adem eine Antwort: „Das ist koloniales Erbe. Fast alle haben ein kollektives Gedächtnis. Sie wissen, daß Ihr uns jahrhundertelang unterdrückt habt. Das Wissen sitzt im Hinterkopf. Die Osmanen haben diesen Komplex nicht. Sie waren nur kurze Zeit von den Engländern besetzt.“
„Und die Religion ist so fremd und altmodisch“, versuche ich.
Meryem weiß in manchen Dingen mehr als ich. „Als die Spanier Südamerika besetzten, brachten sie auch eine fremde Religion mit. Mit Gewalt. Sie wurde Leitkultur.“
 
Dieses Argument wird mir nicht so klar. Man möge einmal an unsere übrigen Einwanderer denken, sage ich; die Italiener, Polen und so weiter. Die seien völlig unauffällig. Und nicht so viele. -
Wisse ich, ob die Polen untereinander nicht einen viel stärkeren Zusammenhalt hätten als mit den Deutschen, fragt Meryem? Und daß viel mehr Amerikaner, Polen und Rumänen einwanderten als Türken? Und insgesamt wanderten aus Deutschland mehr Leute aus als ein, und Fachkräfte, die machten es genau so.
Und so viele Unqualifizierte seien ins Land geströmt, versuche ich es wieder. Wir hätten schlichte Leute zum Arbeiten gerufen, erwidert Adem. Gastarbeiter! Gäste behandele man bei ihnen anders. Damals habe man versäumt, den Kindern ausreichende Bildungschancen zu geben. Und jetzt heuchele man Überraschung!
 
„Ihr wollt mir ein gutes Argument nach dem anderen ausreden“, sage ich. „Beim Messerstechen und bei Ehrenmord hört aber jedes Argument auf.“
Das ärgert Adem besonders. „Meinst du, uns Millionen Türken ärgere das nicht?“
Solche Übel rotte man nicht aus, indem man ganze Volksgruppen diffamiere. Da müsse man schon genauer zielen.
 
Wie ist es ausgegangen? Wilhelm hat Adem Wein nachgegossen, mir alkoholfreies Bier; wir alle wurden langsam müde. Nur Meryem blickte kampfeslustig um sich.
„Für heute ist es genug“, sagte ich. „Bei uns kommen alle jetzt vom Fitness-Studio nach Hause. Ich werde auch müde. Vielleicht sind wir auf das falsche Schlachtfeld geraten? Steht da wenigstens irgendwo ein Schild?“
 
Ich bin dann doch nicht zu Hause angelangt, sondern zunächst in meiner Stammkneipe. Darius, der polnische Kellner, begrüßte mich mit ausgestreckter Hand am Eingang: „Alles gut?“
„Alles gut“, antwortete ich. „Bei Ihnen auch?“ Alles sei wunderbar, meinte Darius, sogar an die Vorwürfe seiner Frau habe er sich gewöhnt. Gehe es mir auch so?
Nein, erklärte ich, ich hätte einen netten Abend gehabt – türkische Bekannte, heftige Diskussion.
 
„Ja, ja“, sagte Darius nachdenklich. „Türken. Zu viele, nicht wahr? Überfremdung ist gefährlich. Da müssen wir aufpassen.“
Dieser Mann fühlt sich integriert, und das ist gut so. Ich muß jetzt Adem fragen, ob er findet, daß zu viele Migranten polnischer Herkunft hier sind. Wenn er das bejaht, weiß ich, daß auch er integriert ist.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007
Redaktion: Frank Becker