Traum und wacher Blick

LudvĂ­k Kundera - "el do Ra Da(da)" - Eine Werkauswahl

von Martin Hagemeyer
Traum und wacher Blick

Der (Post-)Surrealist Ludvík Kundera

Eine Werkauswahl
 
 
Dieser Tage erscheint ein Essayband („Die Begegnung“) des tschechischen Schriftstellers Milan Kundera, der unter anderem seinen Bezug zum Surrealismus zum Thema hat. Eine gute Gelegenheit, auch einmal Bekanntschaft mit seinem Cousin zu machen: dem im vergangenen Jahr verstorbenen Dichter Ludvík Kundera (1920-2010). Und dafür bietet sich der Sammelband „el do Ra Da(da)“ an, eine Werkauswahl in der Reihe „Bibliothek der böhmischen Länder“ beim Arco Verlag (Wuppertal/Wien).
 
Der ungewöhnliche Titel ist vielsagend: Dadaistischen Prinzipien (wenn es so etwas gibt) folgte Kundera in den vierziger Jahren; aber noch Jahrzehnte später finden sich bei ihm anarchische Sprachspiele dieser Art. Die kleine Silbe „Ra“ dann verweist auf Kundera als Gründer: 1946 war er unter den Initiatoren der „Gruppe Ra“, einer Künstlervereinigung, die sich einem modifizierten Surrealismus verschrieben hatte. Zeigt sich hier eine Gemeinsamkeit Ludvík Kunderas mit seinem berühmten Cousin, so wird diese Nähe im Titel noch konkreter: Denn wer den Begriff „El Dorado“ mit „Traumland“ übersetzt, hat mit dem Phänomen Traum, dem zentralen Begriff der surrealistischen Kunstauffassung, einen Aspekt getroffen, der ebenso bei Milan Kundera von Bedeutung ist – auch in seinem Welterfolg „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“.
 
Das soll es mit den Verwandtschaftsbeziehungen aber auch gewesen sein; denn der Band „el do Ra Da(da)“, herausgegeben und übersetzt von Eduard Schreiber, spricht für sich und seinen Autor, Ludvík. Ein kurzer Streifzug durch die versammelten Prosastücke, Gedichte, Künstlerportraits von 1938 bis 2005 macht zweierlei schnell klar: Gattungen sind relativ für Ludvík Kundera. Und: „Theorie“ und „Praxis“ sind es auch. Poetische Texte setzen bei ihm Theoretisches nicht nur um, sondern äußern sich zuweilen selbst grundsätzlich. Konkret: Ein dadaistischer „Prolog I“ zum Beispiel jongliert zunächst mit Buchstaben („eR icH“ – „daheR“ – „sicH“ – „Erich“), was in der Ausgabe leider nicht am tschechischen Original nachvollzogen werden kann – an manch anderer Stelle ist die Sprache des Dichters durchaus mit abgedruckt. Wenige Verse weiter klingt es plötzlich programmatisch: „Ersehnte Wohlklänge stellen sich recht heftig ein / wir werden sie zerbrechen / aus ihnen etwas machen auf Irrwege sie führen“. Hans Arp läßt grüßen – und in der Tat hat Kundera den Verfechter von Dada als Zerstörung 1946 in Paris selbst getroffen und erkannte in dieser Begegnung schwärmerisch „die Gesetzmäßigkeit [des] surrealistischen Zufalls“; eine denkwürdige Formulierung.
 
Der Zufall: Die Dadaisten hatten ihn als schöpferisches Prinzip entdeckt. Der Arco-Band veröffentlicht zum ersten Mal überhaupt einen „Roman“ Kunderas, den der Autor selbst nur in Anführungszeichen so nannte; und dort ist es eine Mixtur aus Lyrik und Tagebuchartigem vor dem historischen Hintergrund des Protektorats, die er wiederum zum Forum für künstlerische Statements macht: „Ich rede mir nicht ein“, heißt es, „nicht die Bohne, durch Konfrontation eines […] zufälligen Textes mit den Frottagen, zu denen [die] Gedichte eingeklebt waren, eine ‚künstlerische Wirkung‘ zu erreichen: Ich rede mir überhaupt nichts ein. Für mich ist das nur ein persönlicher Beleg für die Tragfähigkeit des Zufalls.“
 
Solch klare Aussagen scheinen eher selten bei Kundera. So wie die Surrealisten das Unterbewußte zum Vorbild für ihre Kunst machten, wirkt vieles auch bei dem in Brünn geborenen Schriftsteller traumähnlich und wie das Ergebnis dunkler Assoziation, was schon den ersten Text der Werkauswahl, die Novelle „Berlin“, zum anspruchsvollen Einstieg macht: „Mein Blick zitterte: ‚Du verschwandest in den Abend, der mir weder hart noch spröde vorkam. Tropfsteinwälder, Kristallabyrinthe, im Haar Schießpulver, Lippensümpfe – nicht einmal die Andeutung einer Fußspur nahm ich wahr.“ Ähnlich komplex bis rätselhaft viele der Gedichte.
 
Aber Kundera, so wie man ihn in „el do Ra Da(da)“ kennenlernt, wäre wohl nicht Kundera, wenn er nicht auch das Prinzip Traum selbst wieder zum Gegenstand von Reflexion wie auch Spielerei machen würde. In einem abgedruckten Zyklus aus den neunziger Jahren läßt er reale und fiktive Künstler auf einem Heuwagen ein Schloß ansteuern und am Ziel eine Unterhaltung zum Thema „Träume“ führen. Die respektablen Herrschaften schildern ihre Nachterlebnisse, die glatt als surrealistische Lyrik durchgehen könnten; und das damit vorgeführte Schwelgen in Zwischenwelten à la André Breton wird vollends ironisiert, wenn die Gastgeberin „mit einem Hauch Verlegenheit“ resümiert: „Durchaus ein Traum, poetisch durch und durch, nicht wahr, Hochwürden. Vergönnen wir uns einen Augenblick still nachzusinnen.“ Am Schluß verläßt Kundera auch die Ebene dieser absurden Szenerie und verfügt im Stile einer Regieanweisung: „Bitte das Ende dem Zufall überlassen.“
 
 
Ludvík Kundera: el do Ra Da(da). - Gedichte. Erzählungen. Essays. Bilder.
Aus dem Tschechischen übertragen und mit einem Nachwort von Eduard Schreiber.
Bibliothek der Böhmischen Länder, Bd. 7.
© Arco Verlag Wuppertal, 2007, 416 Seiten, Leinen. Mit Abbildungen.
€ 32,- / SFr 48,-   -  ISBN 3-938375-10-8
Weitere Informationen: www.arco-verlag.de/