„Ah, ich riech es schon, dein Standardgericht.“ Sie ließ die Wohnungstür ins Schloß fallen, das allabendliche Signal, das mir ihre raumfüllende Anwesenheit ankündigte. Am Geräusch ihrer zu Boden fallenden Schuhe konnte ich abschätzen, wie ihre Laune war. Heute schien sie erstaunlich beschwingt.
„Na, wie war’s?“, fragte ich wie jeden Abend.
„Erzähl ich gleich, jetzt hab ich erst mal Hunger. Du, jeden Abend Bratkartoffeln? Du hattest mal mehr Abwechslung drauf.“ Sie goß sich vom Rotwein ein.
„Die Bockwurst siehst du wohl gar nicht. Ein großes Menü, wo denkst du hin? Dafür wäre heute gar keine Zeit gewesen.“
„Ferngesehen?“ Sie sah mich mit diesem Blick an, halb strafend, halb belustigt.
„Und wenn schon! War ne tolle Sendung, die ganze Bundestagsdebatte haben sie gebracht. Fühlte mich mal wieder bestätigt, so klein, wie die Opposition heute war, ob CDU oder SPD, die Grünen kannst du sowieso vergessen. War schon richtig, daß wir letztes Jahr die Bewegung für ein Freies Deutschland gewählt haben und mit uns die halbe Republik. Einfach kümmerlich, was die Merkel und der Gabriel brachten. Dabei war es ihre Große Anfrage … Ä!“ Eine Kartoffelscheibe war mir auf den Schoß gefallen.
„Tja, Benehmen ist Glücksache!“ Sie grinste. So war sie eben, nutzte jede Schwäche, um mir eins auszuwischen. Immerhin ließ sie mich weiterreden. Sie war wohl doch etwas müde von dem Tag im Büro.
„Der Lindner hat sie alle zur Schnecke gemacht, wie er da so die Zahlen runterspulte, die Entwicklung der DM, seit wir aus dem Euro ausgestiegen sind letztes Jahr …“
„Na, warten wir’s ab“, unterbrach sie mich, „auch seine Bäume werden nicht in den Himmel wachsen.“ Jetzt war sie die Skeptikerin, normalerweise war es mein Part. Sie nahm einen Schluck Wein, ein bißchen viel auf einmal, fand ich.
„Jetzt hör einmal zu“, begann sie, und ich wußte, jetzt würde sie erst einmal für eine ganze Weile das Feld beherrschen. „Was da im Rathaus läuft“, fuhr sie fort, „ist eine viel größere Sache als deine Lindner-Story …“
„Na, da bin ich ja mal gespannt“, wagte ich einzuwerfen.
„Aber bitte kein Wort davon zu niemandem. Top secret.“ Sie sah mich aus schmalen Augen an, und ich wußte plötzlich, wie sie im Büro mit sogenannten Untergebenen umging. „Der Stefan hat mir heute Nachmittag ein Band zum Schreiben gegeben mit dem Gedächtnisprotokoll einer Unterredung mit dem WSW-Chef. War noch taufrisch. Erst heute Morgen haben sich die beiden getroffen. Brisant, sage ich dir …“
„Entschuldige, wenn ich dich unterbreche. Stefan, wer ist Stefan?“
„Na, der OB! Sag mal, wo lebst du eigentlich? Interessierst dich wohl nur noch für Berlin und die große weite Welt. Ich merke es schon lange. Die WZ, Wuppertal, alles ruft nur noch ein großes Gähnen bei dir hervor.“ Das hatte ich nun davon, daß ich sie unterbrochen hatte. War doch eigentlich völlig unwichtig, wer dieser Stefan war.
„Also der Deal soll wie folgt laufen: Die Schwebe wird abgebaut und dem Disney-Park bei Paris zum Kauf angeboten. Nur ein kleiner Teil bleibt stehen, als historisches Denkmal, mit Fahrten nur am Wochenende, und zwar die Strecke von Sonnborn bis Vohwinkel Endstation.“ Ein wahrhaft historisches Statement. Sie goß sich ein zweites Glas Rotwein ein.
„Ausgerechnet die Strecke, die unmittelbar an den Schlafzimmern der dort wohnhaften Familien entlang führt“, wetterte ich. „Aufklärung am lebenden Modell soll da wohl am Samstagvormittag geboten werden, für Eltern mit halbwüchsigen Kindern. Und anschließend in den Zoo. Doch wirklich mal eine touristische Neuerung! Keß, würde ich sagen. Aber in mir sträubt sich da einiges.“
„Du mußt aber auch in allem ein schlüpfriges Haar entdecken. Sieh’s doch mal positiv! Sonnborn und Vohwinkel hätten nur noch an zwei Tagen in der Woche das nervtötende Fahrgeräusch der Schwebe zu ertragen …“
„Ja, ja, alles schön und gut, aber kommen wir doch mal zum Kern der Sache!“ Ich war nun wirklich langsam ungeduldig geworden, während sie in aller Seelenruhe an ihrem Wein nippte. „Wie will denn dein ach so ideenreicher Stefan den Verkehr bewältigen entlang der Talachse, wenn er die Schwebe nicht mehr hat?“
„Durch eine zweite Stadtbahntrasse parallel der jetzigen S8.“ Ich war wie vor den Kopf geschlagen und konnte mir gerade noch ein ungehobeltes „Hä?“ verkneifen
„Wie begriffsstutzig ihr Männer doch manchmal seid! Die zweite Trasse haben wir doch schon. Seit Jahren liegt die Nordbahntrasse brach, das hast du wohl noch gar nicht mitbekommen. Die Fledermäuse haben auf der ganzen Linie gesiegt. Kein Fußgänger, kein Radfahrer darf die Tunnel betreten. Die Wuppertalbewegung hat das Projekt aufgegeben. Konnte man ja auch verstehen nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs.“ Sie sah mich triumphierend an, aber ich gab noch nicht auf.
„Und gegen eine durch den Tunnel donnernde S-Bahn haben die Fledermäuse nichts?“
„Nein, natürlich nicht. Für die S-Bahn braucht man keine Tunnelbeleuchtung. Das ist der springende Punkt. Das bißchen Geräusch und den Wind, den die S-Bahn erzeugt, wenn sie durch den Tunnel rauscht, können die Tiere ertragen.“
„Und die Finanzen? Woher will dein Stefan das Geld nehmen?“ Es war mein letzter Pfeil im Köcher.
„Ach, es gibt so viele Töpfe, der Erlös aus dem Verkauf der Schwebe, die Rücklagen für die Instandhaltung der Schwebe … Keine Angst, das klappt schon.“ Das klang nicht gerade überzeugend. Offenbar hatte ich einen wunden Punkt getroffen. Aber Finanzen hatten sie noch nie interessiert. „Der OB zieht das durch, da kannst du sicher sein.“
Die plötzliche Gewißheit machte mich stutzig. Da mußte etwas dahinter stecken. „Offenbar ist das noch nicht die ganze Geschichte. Irgendetwas willst du mir vorenthalten.“
Sie lächelte. „Du hast recht, ein kleines Detail fehlt noch. Eine Kollegin vom Katasteramt hat mir heute Nachmittag erzählt, Stefans Tochter habe sich diese schöne Villa an der Wupper gekauft. Na, was sagst du jetzt? Wird im Wert ganz schön steigen, wenn die Schwebe erst mal abgebaut ist. Eine Villa inmitten glänzender Auen, von der Wupper umspült.“
„Auch die Tochter wird im Wert steigen und endlich einen abkriegen. Denn bisher ist sie ja wohl leer ausgegangen, schätze ich.“ Wir waren uns plötzlich einig.
„Weißt du“, sagte sie und zum ersten Mal wurde sie weich an diesem Abend, „ich habe es ja immer bedauert, daß wir keine Kinder haben, aber wenn ich das höre, bin ich doch ganz froh darüber. Was meinst du, wie wir uns abstrampeln müßten, wenn wir unsere Kinder auch so ausrüsten wollten wie Schlachtschiffe …“
© Wolf Christian von Wedel Parlow - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2011
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