Der Höhepunkt des Schwebens

(aus dem Roman "Siebenschläfer")

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker
Der Höhepunkt des Schwebens
 
Es war schon fast zwei Jahre nach Kriegsende, als ich aus Kriegsgefangenschaft zurückkam. Ich erinnere mich noch an alles: Der graue Seesack über meiner Schulter, die Schutthaufen vor den Häuserruinen, die dünnen Rauchspiralen, die aus einigen Schornsteinen emporstiegen, die erleuchteten Fenster hier und dort, die ich als Willkommensgruß empfand.
Der Bombenteppich hatte vor unserem Haus in der Nordstatt haltgemacht, und ich begann, die knarrende Holztreppe emporzusteigen, ein freier Mann, aber in einer zerstörten Stadt.
 
Als ich kürzlich von Oberbarmen nach Elberfeld fuhr, stellte ich mir vor, wie es ein Spätheimkehrer aus der Sowjetunion erlebt hätte. Auch ihn hätten Erinnerungen begleitet. Vor mir standen die Bilder der Zeltstädte in der Wüste, dann die Baracken in amerikanischen Militärcamps, aber vor ihm hätten die Bilder sterbender Kameraden auf Pritschen gestanden, deren Abschiedsblicke sich angstvoll an ihm festklammerten.
 
Und nun tritt er, wie ich auch damals, aus dem Elberfelder Bahnhof, geht in die verschneite Trümmerstadt hinein. Vor ihm kreuzt das Gerüst der Schwebebahn die Straße, die zum Neumarkt führt und jetzt donnert sie heran, es gibt sie wirklich, sie kommt, ein funkelnder Lichterwurm, begleitet von einem Aufkreischen, das ein Schrei der Freiheit ist, ein Schrei des Lebens, das vor ihm liegt und ihn erwartet.
 
Der Jubel, der ihn erfüllt, kann nicht spurlos an ihr, der Bahn, vorübergegangen sein. Er hat sich festgesetzt hinter der Blechverkleidung, erfüllt sie, und er, der Heimkehrer, er bemerkt es sofort, wenn er sie wiedersieht.
 
Ich stieg aus diesem Traum aus und schaute mir die Wupperufer an, die noch vorhandenen Fabrikreste aus roten Ziegeln, die grünbewachsenen Ufer, die neu angelegten Spielplätze und Promenaden. Ein Gefühl von Getragensein - ich schwebte ja schließlich -, von Gelöstheit und Harmonie verstärkte sich in mir. Wieder war ich in einem Traum, diesmal aber bilderlos.
 
Dies war ein seliger Augenblick. Es war, als ob sich ein Vorhang nach beiden Seiten öffnete, Luft und Licht wurden dünn und blass, aber dennoch überglänzt. Es war nichts mehr vorhanden, nicht einmal ich, aber dennoch gab es mich und alle, die ich kenne. Nichts war zu sehen, aber alles voller Freundlichkeit vorhanden, und ich mitten darin.
 
Man sieht daran, himmlisches Schweben ist möglich.




© Karl Otto Mühl - aus: "Siebenschläfer", NordPark Verlag 2002
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung