Gedichte und Apfelwiesen

Ein Verlegerleben mit Ernesto Cardenal (1)

von Hermann Schulz

Hermann Schulz - Foto © Frank Becker
Gedichte und Apfelwiesen
 
Ein Verlegerleben mit Ernesto Cardenal (1)
 
von Hermann Schulz
 
Seit fünfundvierzig Jahren kennen wir uns und sind uns in dieser Zeit, zwischen 1969 und 2011, ungezählte Male begegnet: Auf den Solentiname-Inseln im Großen See von Nicaragua (dem Cocibolca), in Deutschland, Managua, Greytown, Amsterdam, Paris, Assisi, Guadalajara, Costa Rica. Wir trafen uns mit Arafat, Günter Grass, Mario Vargas Llosa, Fidel Castro, mit Bischöfen, Dichtern und Politikern, auf Kirchentagen und Kongressen. Aber vor meinem inneren Auge sehe ich ihn beim Angeln in einem schwankenden Boot, oder wie er grüne Äpfel auf deutschen Wiesen aufliest, auch in seinem stillen Garten, wie er an seinen Holzskulpturen schnitzt.
Heute ist Ernesto Cardenal 86 Jahre alt, reist als Dichter und Prophet, wie er sich selbst manchmal bezeichnet, immer noch unermüdlich durch alle Welt, um seine Gedichte zu lesen: Texte von der Macht der Liebe, vom Gottesreich auf Erden, von den Wurzeln unserer Mystik in alten Kulturen, von der Heiligkeit der Revolution und von der Schönheit. Ihn als Verleger und Freund begleiten zu können, war ein Abenteuer in mehrfacher Hinsicht. Das begann mit der Entdeckung: 1965 schickte mir der Rundfunkjournalist Arnim Juhre einen Ausriß der „Zürcher Tat“ mit einem Psalm und wenigen (falschen) Zeilen über einen bis dahin unbekannten Autor. Es waren Abenteuerlust und Neugier, diese Spur zu verfolgen. Es dauerte über ein Jahr, bis ich die Adresse des Übersetzers Stefan Baciu, eines Rumänen, der in Hawaii lebte, ermittelt hatte, und die des Autors auf den Solentiname-Inseln im Großen See von Nicaragua. Cardenal antwortete sofort: Er war einverstanden, daß wir seine Psalmen auf Deutsch herausbrachten. Ich selbst war unsicher und ließ Gutachten erstellen; sie fielen nicht günstig aus. Wir riskierten es trotzdem.
Der damalige Verlagsleiter und spätere Bundespräsident Johannes Rau hatte meine Bemühungen um den exotischen Autor nur am Rande mitbekommen. Als ich ihm die kompletten 24 Texte vorlegte, äußerte auch er sich skeptisch. „Aber wenn Sie meinen …“, beschied er mich in seiner lakonischen Art. 1967 kamen die Psalmen unter dem Titel „Zerschneide den Stacheldraht“ auf den deutschen Markt; inzwischen war ich selbst Verlagsleiter.
 
Wie selten ein Buch kamen die Psalmennachdichtungen zur rechten Zeit; die Studentenbewegung hatte auch in Kirche und Gesellschaft einiges in Bewegung gebracht. In den ersten beiden Jahren wurden rund 25.000 Exemplare verkauft; ungewöhnlich für Gedichte.
Ich hatte mir als junger Verleger vorgenommen, jeden Autor des Verlages persönlich zu kennen und buchte mit geliehenem Geld die Reise, die nicht weniger abenteuerlich war als die Entdeckungsgeschichte. Ich sprach noch kein Spanisch, hatte keine Ahnung von den politischen Verhältnissen des Landes – und in Managua nur eine Telefonnummer, die mir Ernesto geschickt hatte: die seines Cousins Pablo Antonio Cuadra, bei der Tageszeitung „La Prensa“ für Kultur zuständig. Weil Pablo Antonio kein Englisch sprach, brachte er seine Sekretärin Rosario Murillo mit zum Flughafen, die heute Ehefrau des Präsidenten Daniel Ortega ist. Telefon nach Solentiname gab es nicht, wohl aber andere geheimnisvolle Kommunikationswege. Ich flog in einer kleinen Maschine über den Großen See nach Osten und landete auf einer Wiese im Dschungel. Eine Gruppe kubanischer Männer, die die Güter des Diktators Somoza leiteten, hatte die Landung des Viersitzers mitbekommen. Sie brachten mich in eine Hütte und fragten mich aus. Irgendwann kam ein bärtiger junger Mann über die Wiese, um mich abzuholen und mit mir über den See zu den Inseln zu fahren. William Agudelo aus Kolumbien, auch er ein Dichter. Immerhin sprach er ein paar Brocken Englisch.
Er war Schüler Cardenals im Priesterseminar in Medellin in Kolumbien gewesen und mit ihm nach Solentiname gereist, um hier gemeinsam neue Formen des Zusammenlebens zu suchen. Thomas Merton, Abt eines Trappistenklosters in Kentucky, wo Cardenal zwei Jahre verbrachte, hatte dazu die Anregung gegeben.
Als Agudelo Cardenal gestand, der Zölibat käme für ihn nicht in Frage, er sei in Teresita verliebt, hatte er nichts dagegen, daß auch Paare der klosterähnlichen Gemeinschaft von Solentiname angehören könnten.
 
Ich war nicht der einzige ausländische Gast auf der Insel: ein argentinischer Verleger mit Namen Carlos Lohlé hatte in einer Buchhandlung in der Kalverstraat in Amsterdam die deutschen „Psalmen“ gekauft und war gekommen, um mit Cardenal die Herausgabe seiner Bücher in Lateinamerika zu besprechen. Dieser Niederländer, der seine Verlagslehre in Leipzig gemacht hatte und nach Argentinien ausgewandert war, hatte sein Geld mit dem Roman des Griechen Nikos Kazantzakis „Alexis Sorbas“ verdient. Auch wenn mir seine Sprachkenntnisse nützlich waren: sympathisch fand ich ihn nicht. Leider stellte sich später heraus, daß er Ernesto um viel Geld betrog.
 
Solentiname war und ist ein Naturparadies. Nirgendwo auf der Welt habe ich eine solche liebliche Vielfalt tropischer Vegetation erlebt, nirgendwo sonst war die Natur so belebt von Vogelarten, Käfern, Reptilien, Fischen und Moskitos. Und einer sanften Bevölkerung von Bauern und Fischern. Die kleine Kirche hatten diese Indios bunt-naiv ausgemalt. Sie kamen früh am Sonntag auf Trampelpfaden oder mit Ruderbooten, um mit ihrem Priester Ernesto Cardenal die Messe zu feiern. Jeder hatte Speisen und Getränke dabei, das Zusammensein mit viel Rum und Musik dauerte bis in die Abendstunden. Als ich müde im Dunkel unter dem Strohdach lag, hörte ich das Konzert der Zikaden, das Krächzen des Guadabarranco, ferne Gitarrenklänge und Gelächter vom Ufer.
Die gemeinsame Morgenandacht der insgesamt sechs Mitglieder der Gemeinschaft - neben den Agudelos junge Männer aus Solentiname - bestand aus einer Lesung aus Edgar P. Snows Reportage „Roter Stern über China“, einem Gespräch darüber und daß man auch Nicaragua eine Revolution wünsche – und einem Gebet. Niemand fragte mich, ob ich Protestant oder Katholik sei, als ich später am Abendmahl teilnahm.
Cardenal gab mir sein gerade erschienenes Buch „Vida en el amor“ (Das Buch von der Liebe) und sagte verschwörerisch, er würde nach Kuba reisen; Fidel Castro habe ihn eingeladen.
Das „Buch von der Liebe“ erschien auf Deutsch, übersetzt von Anneliese Schwarzer, später sein Buch „In Kuba“. Nicht nur Cardenals Bücher wurden auf unserem Buchmarkt schnell ein Begriff: das Interesse an einem Mann, der mit den Ärmsten der Armen neue Formen des Zusammenlebens erprobt, der vom Reich Gottes auf Erden spricht und sich zum Kommunismus bekennt, ja seine ganze Erscheinung, wirkten ebenso faszinierend. Er wurde zur Kultfigur.



© 2011 Hermann Schulz - Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung
Lesen sie morgen hier Teil 2 von Hermann Schulz´ Erinnerungen an Ernesto Cardenal
Redaktion: Frank Becker