Gedichte und Apfelwiesen

Ein Verlegerleben mit Ernesto Cardenal (3)

von Hermann Schulz

Hermann Schulz - Foto © Frank Becker
Gedichte und Apfelwiesen
 
Ein Verlegerleben mit Ernesto Cardenal (3)
 
von Hermann Schulz
 
In den darauffolgenden Jahren reiste ich mindestens einmal jährlich nach Nicaragua, weil ich mich um zahlreiche Solidaritäts-Projekte kümmerte. Vor allem der Aufbau von Verlagen lag mir – und auch Cardenal - am Herzen. Ich wohnte bei ihm, durfte seine Minister-Fahrzeuge benutzen und bekam sogar häufig einen Fahrer gestellt. Reisen in Nicaragua war in den Jahren seit 1982 nicht ganz ungefährlich, denn der Contra-Krieg der ehemaligen Somoza-Soldaten gegen die neuen Machthaber war entbrannt. Nächtliche Schießereien, vor allem im Norden und Süden des Landes, waren an der Tagesordnung.
In eine brenzlige Situation allerdings kam ich nicht durch die Feinde der Revolution, sondern durch Soldaten der Sandinisten:
Cardenal hatte mir und meiner Familie einen Toyota-Geländewagen überlassen, wir wollten auf dem Landweg nach San Carlos, von dort nach Solentiname. Mitten im Dschungel hielt mich ein sandinistischer Wachposten an.
„Wohin?“
„San Carlos.“
„Hast du Waffen dabei?“
„Nein, keine Waffen.“
„Bitte aussteigen.“
Der Soldat durchsuchte unser Gepäck, dann den Wagen. Als er den Fahrersitz hochklappte, wurde ich bleich: Da lagen eine Maschinenpistole und rund 20 Handgranaten. Jetzt stellen sie dich als Konter-Revolutionär an die Wand, war mein erster Gedanke. Ich stammelte, der Wagen sei vom Ministerium, ich hätte ja keine Ahnung gehabt. Mit freundlichen Ermahnungen ließ man mich weiterfahren.
Für ein paar Jahre war das Projekt ‚Kultur‘ einmalig in Lateinamerika: Die Werkstätten der Poesie wurden gegründet, sogar in Gefängnissen, die Alphabetisierungskampagne folgte, organisiert von Fernando Cardenal S.J., einem der Brüder Ernestos, Gesundheitskurse überall im Land, neue Schulen und Krankenhäuser entstanden. Zu Dichterlesungen kamen bis zu 5.000 Menschen – Journalisten, Schriftsteller und Künstler aus aller Welt kamen, um zu berichten, darunter Günter Grass, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar, Carlos Fuentes, Thiago de Mello, J. Jevtuschenko. Und Tausende junger Leute, die in der Kaffee-Ernte halfen, vor allem aus Deutschland.
 
Bei meinen zahlreichen Besuchen erfuhr ich nach und nach mehr über den privaten Cardenal. Er ist das dritte von sechs Kindern einer Kaufmannsfamilie mit Wurzeln in Spanien und Ostpreußen. Manchmal abends im Kreis seiner Freunde, wenn die Anspannung des Tages von ihm abfällt, erzählt er gern die abenteuerlichen Umstände, wie die Vorfahren aus Königsberg ins zentralamerikanische Nicaragua gekommen sind - und daß sie alle pure Kapitalisten waren, und manchmal auch pleite gingen.
Die Eltern des Dichters habe ich im hohen Alter noch kennengelernt; Vater Rodolfo wurde 98 Jahre alt, Esmeralda 96. Als wir 1982 einmal gemeinsam zu Mittag das Traditionsgericht viejo indio aßen, erzählte Ernesto, inzwischen Kulturminister, mit Eifer, daß in Deutschland die Arbeiter der Müllabfuhr mehr verdienten als die Minister der Revolutionsregierung. Solche Geschichten vom „Neuen Menschen“, der selbstlos die Sache der Armen vertritt, riefen bei Vater Rodolfo nur ironisch-sarkastische Bemerkungen hervor. Leider hat er mit seinen Zweifeln am heiligengemäßen Leben der meisten Sandinisten Recht behalten. Solche Rückschläge haben Ernestos Visionen nie ins Wanken gebracht, ebenso wenig andere persönliche und politische Rückschläge, von denen es in seinem Leben eine Menge gab.
 
Mein idealistisches Bild von der Revolution bröckelte, als deutlich wurde, daß immer mehr Solidaritätsgelder in finsteren Kanälen verschwanden - und als Cardenals Ministerium ‚wegen Geldmangel‘ geschlossen wurde. Dahinter steckten aber andere Motive: der Poet war nicht bei allen Sandinisten gleichermaßen angesehen; er und sein internationales Prestige wurde bald nicht mehr gebraucht. Ich konnte gut nachvollziehen, daß er 1990 die Sandinistische Partei verließ und seine ehemaligen Kampfgefährten anklagte: Verhinderung jeglicher Demokratie, interne Machtkämpfe und Korruption.
Ernesto Cardenal zog sich nicht nach Solentiname zurück, er blieb in Managua, um sich bei gegebenen Anlässen einzumischen. Als privater Dichter war er den Machthabern vielleicht noch lästiger geworden. Da ihn die Kirche seiner Ämter enthoben und er freiwillig die Revolutionspartei verlassen hatte, bekam er keinen Pfennig Rente. So reist er bis heute um die Welt, um für sich und seine arbeitslosen Freunde Geld zu verdienen.
Er hat einige Male in Interviews gesagt, ein ruhiger Tag in seinem Garten sei ihm wertvoller als der Literatur-Nobelpreis. Das glaube ich ihm zwar nicht ganz, muß aber zugestehen, daß ich ihn nie so ‚nahe bei sich selbst‘ erlebt habe wie auf Apfelwiesen, langen Fahrten durch deutsche Wälder oder bei der Arbeit an seinen Holzskulpturen. Er ist in all den Lebenswirren immer ein kontemplativer Christ geblieben.
 
 
Autorennotiz
Hermann Schulz, geboren 1938, leitete von 1967 bis 2001 in Wuppertal den Peter Hammer Verlag. Seit 1998 erscheinen eigene Bücher, darunter die Romane „Sonnennebel“, „Iskender“, „Auf dem Strom“, „Zurück nach Kilimatinde“; die Kinderbücher „Mandela & Nelson“. „Wenn dich ein Löwe nach der Uhrzeit fragt“, „Die schlaue Mama Sambona“. Er hat zwei Töchter, einen Sohn, und lebt in Wuppertal.
 
 


© 2011 Hermann Schulz - Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung
Redaktion: Frank Becker