Herzensadel? Fehlanzeige!

Ibsens „Nora“ aus Oberhausen beim Theatertreffen NRW

von Martin Hagemeyer
Herzensadel? Fehlanzeige!
 
Beim Theater Oberhausen emanzipiert sich Ibsens „Nora“
auch von Literaturklischees
 
Henrik Ibsen: Nora oder Ein Puppenhaus.
Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel.
 
Regie und Bühne: Herbert Fritsch – Kostüme: Victoria Behr – Musik: Otto Beatus – Dramaturgie: Tilman Raabke – Regieassistenz: Christian Quitschke.
Besetzung: Nora: Manja Kuhl – Frau Linde: Nora Buzalka – Helmer: Torsten Bauer – Doktor Krank: Henry Meyer – Rechtsanwalt Krogstad: Jürgen Sarkiss.
 
Die Literaturgeschichte kennt so einige Frauengestalten, die ein sittlich anstößiges Leben führen, diese Schande jedoch selbstlos durch Herzensgüte wieder wettmachen. Wie verhält es sich da aber mit Henrik Ibsens „Nora“, die Herbert Fritsch am Theater Oberhausen inszeniert und zum NRW-Theatertreffen nach Wuppertal gebracht hat? In einer Interpretation wie diesem geilen Horror-Antimärchen ist von der herzigen Kompensationsleistung nichts übrig. Aber vielleicht ist das ganz gut so.
 
„Nora“, nach dem norwegischen Originaltitel auch „Ein Puppenhaus“ genannt, war eine bei ihrem Erscheinen 1879 unerhörte Emanzipationsgeschichte. Die junge Titelfigur hat sich in ihrer Naivität prostituiert und außerdem einen Betrug begangen, um ihrem Mann ohne dessen Wissen eine lebensrettende Kur finanzieren zu können. Als Jahre später ein Mitwisser droht, das bekannt zu machen, sorgt der bigotte Ehemann sich nur um seine Ehre und bedenkt Nora mit offener Verachtung. Statt ihren Selbstmordplan auszuführen, unternimmt sie daraufhin einen revolutionären Schritt und verläßt Mann und Kinder.
 
Statt Ibsens überdeutliche Figurenzeichnung mit weicheren Strichen zu gestalten, tut nun Regisseur Fritsch genau das Gegenteil und spitzt weiter zu: Nora, die „Puppe“, wird bei Manja Kuhl mit Rotschopf und immer luftigem Reifrock (zunächst) vollends zum Spielzeug: knallig, lockend, leicht zu handhaben. Paradoxerweise macht das Überreizen ihre bei Ibsen enervierende Unbedarftheit erträglicher.
Bei allen anderen Figuren ist es das Böse, das maßlose Formen annimmt: Ob man sich bei Torsten Bauer, als Ehemann Torvald Helmer unbewegt  im maskenhaften Gesicht, an konkrete Spukgestalten erinnert fühlt oder auch beim kreidebleichen Doktor Rank, der hier einleuchtend zu „Krank“ umgetauft wird, ist zweitrangig. Deutlicher als mit dieser Scheintoten-Optik kann man jedenfalls den Kontrast zur vitalen Nora nicht betonen. Augenfällig wird auch mit denkbar expliziter Bildersprache, was die versammelte Freakshow von Nora will: Sex. Rechtsanwalt Krogstad (ein dämonischer Jürgen Sarkiss), der die Eheleute erpreßt, leckt ihre Beine, lüpft ihr nicht nur den Rock, sondern schlüpft gleich kopfüber darunter. Und selbst Noras hilfsbereite Schulfreundin Christine Linde ist hier nicht besser: Nora Buzalka, von Anfang an Typ „schöne Hexe“, zeigt sehr komisch, was brünftiges Raunzen aus einem harmlosen Satz wie „Ich suche eine neue Stellung“ machen kann; und als die Männer Nora entkleiden und der Länge nach umklammern, greift sie gern mit zu.
 
Eines aber wird nicht übersteigert, sondern (wie eingangs angedeutet) vielmehr gestrichen: Noras Empathie. Ob gegenüber Gatten, Vater oder Freundin – Fritschs zielsicherer Rotstift eliminiert praktisch jede mitmenschliche Regung und provoziert damit umso stärker die Frage:  Wie soll diese Nora, Sirene im doppelten Sinn (so schrill und so verführerisch), bis zum Schluß des Stücks irgend noch zu Größe auflaufen – wie sie es bei Ibsen tut, wo sie von Helmer enttäuscht wird und das Haus als moralische Siegerin verläßt, befreit von sexistischer Bevormundung? Aber was eigentlich wäre sie sonst anderes als eine weitere Kreatur des Gruselkabinetts von Krank und Konsorten – mit dem einzigen Unterschied, daß sie den besseren Friseur hat?
 
Die Antwort muß wohl lauten: Diese Nora hat zwei Gesichter, und sie weiß selbst nichts davon. Gegen Ende sagt sie einmal: „Danke, Christine. Jetzt weiß ich, was zu tun ist.“ In diesem Moment, wenn nicht alles täuscht, mischt sich ein Ton in ihre Stimme, der bislang ganz fehlte – Ernsthaftigkeit. Es ist fesselnd, Manja Kuhls Spiel zu verfolgen, wie ihre Nora tastend Distanz zu ihrer Püppchen-Rolle austestet, um im nächsten Moment wieder dolly-like „Torvald!!“ zu quieken.
 
Die Figur Nora ist nicht ideal. Bei Ibsen zeigt sie wenig Geist; bei Fritsch, bei Kuhl hat sie vielleicht sogar keine Gefühle.
Befreien muß sie sich dennoch.