Vertraut und unbekannt zugleich

Fabelhafte Werkschau des Impressionisten Alfred Sisley in Wuppertal

von Rainer K. Wick
Vertraut und unbekannt zugleich
 
Das Wuppertaler Von der Heydt-Museum brilliert mit einer fabelhaften Werkschau des Impressionisten Alfred Sisley
 
 Nachdem das Wuppertaler Von der Heydt-Museum im Jahr 2006 den Wegbereitern des französischen Impressionismus, der sog. Schule von Barbizon, eine große Retrospektive gewidmet hatte, gefolgt von Auguste Renoir (2008), Claude Monet (2009/10) und dem Post-Impressionisten Pierre Bonnard (2010/11), kann nun, nicht zuletzt dank der maßgeblichen finanziellen Förderung durch die  Wuppertaler Jackstädt-Stiftung, in den Räumlichkeiten am Turmhof ein weiterer wichtiger Vertreter impressionistischer Malerei besichtigt werden, nämlich Alfred Sisley. Obwohl er zum inneren Kreis der Impressionisten gehört und in kaum einer bedeutenden Impressionismus-Sammlung fehlt, ist er zugleich doch einer der großen Unbekannten dieser künstlerischen Bewegung. Sein Werk ist bis heute in weitaus geringerem Maße erforscht als die Kunst von Manet, Monet, Renoir oder Pissarro, und über sein Leben ist trotz der in

Alfred Sisley 1874, Archives Durand-Ruel
den 1990er Jahren in englischer Sprache erschienenen kritischen Biographie von Richard Shone nur relativ wenig bekannt.
 
Ernst ist das Leben…
 
1839 als Sohn eines erfolgreichen englischen Geschäftsmanns in Paris geboren und als junger Mann von den Eltern finanziell unterstützt, konnte Sisley in den Sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein Kunststudium aufnehmen und danach ganz unbeschwert seiner eigentlichen Passion, der Freilichtmalerei, frönen – und das, obwohl seine Werke vom „Salon“ zurückgewiesen wurden und es ihm nicht gelang, von Bildverkäufen zu leben. Der deutsch-französische Krieg von 1870/71, der zur Gründung des Deutschen Reiches und zur Proklamation Wilhelms I. zum deutschen Kaiser führte, brachte für Sisleys Vater den geschäftlichen Ruin und für den Sohn Alfred das Ende seines finanziell sorglosen Daseins. Hatte er bis dahin sogar seine impressionistischen Künstlerfreunde unterstützen können, mußte er angesichts der Unverkäuflichkeit seiner Bilder fortan sein Leben in großer Armut fristen, ein Zustand, an dem sich bis zu seinem Lebensende – er starb 1899 an Kehlkopfkrebs – nichts änderte. Sisley zog sich von Paris aufs Land zurück und malte in der Umgebung der Hauptstadt Hunderte von Landschaftsbildern, die ihn – um den Untertitel der Wuppertaler Ausstellung aufzugreifen – zum „wahren Impressionisten“  werden ließen. Er galt als bescheiden, zurückhaltend, ja schüchtern, im Alter auch als mißtrauisch und mürrisch. Bei ausbleibender öffentlicher Anerkennung und angesichts eines von finanziellen Sorgen überschatteten Daseins sah er nach und nach „alle Freuden des Lebens … schwinden, nur die Freude am Malen verließ ihn nie“, wie Arsène Alexandre anläßlich der postumen (und finanziell endlich erfolgreichen) Verkaufsausstellung des Jahres 1899 in der Pariser Galerie Georges Petit feststellte.
 
…heiter ist die Kunst
 
Diese „Freude am Malen“ fand seit den Siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in subtil gemalten,

Sonnenuntergang bei Moret,1892 - Foto © Rainer K. Wick
lichten, farblich meisterhaften Landschaftsdarstellungen ihren Niederschlag, die von einem lyrischen Grundton durchzogen sind. Der Bogen spannt sich in der Wuppertaler Ausstellung von den frühen, noch recht tonigen Bildern, die Sisley im Wald von Fontainebleau unter dem Einfluß der Künstler von Barbizon und vor allem Corots schuf, bis hin zu Arbeiten, die bereits den heraufziehenden Jugendstil erahnen lassen, so etwa die karge „Winterlandschaft“ (1880-85, National Gallery of Scotland, Edinburgh) mit ihrer Flächenbetonung und ihren klaren grafischen Akzenten, oder „Sonnenuntergang bei Moret“ (1892, Sammlung Würth, Künzelsau) mit der Silhouette sich im Wasser spiegelnder Pappeln.
Hinreißend ist die geradezu physisch spürbare atmosphärische Frische vor allem der Flußlandschaften mit ihrer Dominanz reiner Blautöne, die den Himmel und das Gewässer bestimmen. Als herausragendes Beispiel sei nur „Die Brücke von Villeneuve-La-Garenne“ (1872) aus der „heroischen“ Phase des sich entfaltenden Impressionismus erwähnt, das aus dem New Yorker

Brücke von Villeneuve-La-Garenne - Foto © Rainer K. Wick
Metropolitan Museum of Art entliehen werden konnte. Charakteristisch für zahlreiche Landschaftsbilder Sisleys ist der auffallend tief plazierte Horizont, überspannt von einem großen, mehr oder minder bewölkten Himmel, dessen ungemein lebendige malerische Behandlung als unmittelbarer Nachhall der Gemälde seines großen englischen Landsmanns John Constable anmutet. Sowohl die Wolkenhimmel als auch die Wasseroberflächen suggerieren regelmäßig den Eindruck von Bewegung – ganz im Sinne des bekannten Diktums von Claude Monet, des berühmtesten aller Impressionisten: „La nature ne s’arrête pas‘‘, die Natur steht nie still. Insofern hat Gerhard Finck, der Direktor des Wuppertaler Museums, zu recht darauf hingewiesen, daß Sisley die Bewegung im Bild zu „seinem“ Thema gemacht habe.
 
Licht und Farbe
 
Dies gilt selbstverständlich nicht nur für spezifische Naturphänomene wie Wasser und Wolken, sondern ganz allgemein für das vibrierende Licht, das Sisley – wie andere impressionistische Maler auch – mit Hilfe fleck- und kommaartig aufgetragener Pinselstriche in Farbmaterie zu verwandeln suchte.
Daß ungeachtet seiner mißlichen Folgen für die unmittelbar Betroffenen für einen Impressionisten das Hochwasser ein ideales Thema sein kann, da hier Himmel und Erde buchstäblich ineinander

Überschwemmung in Marly - Foto © Rainer K. Wick
verschwimmen, hat Sisley in verschiedenen Gemälden des Jahres 1876 durchvariiert. Zwar zeigt Wuppertal die etwas brave Fassung „Überschwemmung in  Marly“ aus dem Bostoner Museum of Fine Arts, doch fehlen bedauerlicherweise die beiden „klassischen“, an malerischer Delikatesse kaum zu überbietenden Überschwemmungsbilder aus Port-Marly – einmal bei praller Sonne, einmal bei stark bewölktem Himmel – , die sich im Besitz des Pariser Musée d’Orsay befinden, oder auch ein anderes Bild aus dieser Serie, das im Musée des Beaux-Arts in Rouen beheimatet ist. Zauberhaft sind die fein nuancierten Schneelandschaften mit ihren differenzierten silbrig-farbigen Graus, etwa „Schnee in Louveciennes“ (1876) aus dem Museum Bahnhof Rolandseck in Remagen, „Louveciennes im Winter“ (1876) aus der Stuttgarter Staatsgalerie oder „Schnee in Verneux-Nadon“ (1880) aus dem Pariser Musée d’Orsay.
Ähnlich obsessiv, wie Monet die Kathedrale von Rouen zu den verschiedenen Jahres- und Tageszeiten, bei den unterschiedlichsten Lichtverhältnissen sowie bei allen nur erdenklichen Witterungsverhältnissen „porträtiert“ hat, hat auch Sisley die gotische Kirche Notre-Dame von Moret-sur-Loing immer wieder gemalt – am Morgen bei Regenwetter, im abendlichen Sonnenlicht, am

Louveciennes im Schnee - Foto © Rainer K. Wick
Nachmittag, bei Frost. Das Wuppertaler Museum zeigt allein sechs Gemälde (von vierzehn) mit diesem Motiv, die deutlich machen, daß es dem Künstler nicht primär um die Architektur selbst zu tun war, sondern eher um die malerische Wiedergabe der Licht-, Schatten- und Farbphänomene, wie sie sich auf den Mauern dieses Bauwerks im steten Wechsel beobachten ließen. Während Monet in seiner Kathedral-Serie die Formauflösung radikal zugunsten reiner Farbeindrücke vorantrieb, mochte Sisley offenbar nicht so weit gehen, die tektonische Struktur des Gebäudes mit ihren Baugliedern (vor allem den horizontalen, für die Gotik eher untypischen Gesimsen) zu vernachlässigen. Insofern präsentiert sich Sisley im direkten Vergleich mit dem langjährigen Künstlerfreund Claude Monet doch als der wesentlich weniger progressive Maler.
In Moret-sur-Loing, mit seinem Fluß und Kanal ein überaus idyllischer Ort in der Nähe von Fontainebleau, hatte sich Sisley zu Anfang der Achtziger Jahre niedergelassen, hier starb er auch fast zwei Jahrzehnte später. Wie zuvor Louveciennes, Marly oder Billancourt bot ihm Moret nun in unerschöpflicher Fülle jene Motive, die ihn berühmt gemacht haben, die zugleich aber auch der Grund dafür sind, warum er nicht jene Beachtung gefunden hat wie Monet, Renoir und andere prominente Meister des französischen Impressionismus. (In Klammern sei angemerkt, daß Sisley, als Kind englischer Eltern in Frankreich geboren, ungeachtet entsprechender Bemühungen nie die französische Staatsbürgerschaft erlangt hat; gleichwohl wird er allgemein als französischer und nicht als englischer Künstler wahrgenommen.)



Die Kirche von Moret am Abend, 1884 (links) und am Nachmittag 1893 (rechts), Foto © Rainer K. Wick
 
Sisleys Modernität
 
Der Sisley-Biograph Richard Shone nennt drei Gründe, warum dieser Künstler neben anderen impressionistischen „Hauptdarstellern“ eher eine „Nebenrolle“ gespielt habe: erstens die schwankende Qualität seiner Arbeiten (was auch in der Wuppertaler Ausstellung erfahrbar ist), zweitens – wie bereits erwähnt – die Tatsache, daß Sisley als Person nur schwer greifbar ist, und drittens, daß er sich auf ein einziges Sujet beschränkt hat, mit anderen Worten, daß er „ausschließlich Landschaftsmaler“ war. Im Unterschied zu den Bildern anderer Impressionisten gibt es „keine

Boote auf der Seine, 1877 - Foto © Rainer K. Wick
Kaffeehausszenen, städtische Straßenansichten, … Frauen auf Sofas oder luxuriöse Stilleben. Seine Landschaften sind unspektakulär und häufig nüchtern in ihrer sparsamen, geradezu minimalistischen Komposition.“ (Katalog, S. 91) Gerade das aber ist es, was sie aus heutiger Sicht so modern erscheinen läßt. Und damit ist auch die Frage „Warum Sisley?“, die Gerhard Finck in dem schönen und informativen Katalog diskutiert, um diese große und großartige erste Retrospektive des Malers in Deutschland zu rechtfertigen, zumindest zum Teil beantwortet.
P.S.: Die Zwischenüberschriften „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst“ stammen aus dem Prolog zu „Wallenstein“ von Friedrich Schiller.
 

Alfred Sisley – Der wahre Impressionist
  |  13.09.2011 - 29.01.2012
Von der Heydt-Museum Wuppertal
Turmhof 8 - 42103 Wuppertal

Katalogbuch „Alfred Sisley – Der wahre Impressionist“, hrsg. v. Gerhard Finck, Wuppertal 2011; 252 S. mit zahlreichen Farbabbildungen; ISBN 978-3-89202-080-6; 25,- €.
 
Redaktion: Frank Becker