Berührende Lyrik

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Berührende Lyrik
und praktische Kartons


14. September: Der Zeigefingerschutz: Es gibt Berufe, denen die gesellschaftliche Anerkennung versagt wird. Mein Freund Hohenhöcker ist Notenumblätterer. Er ist einer von denen, die im Hintergrund wirken. Ihre Aufgabe ist es, andere glänzen zu lassen. Manchmal sieht man Konzerte, in denen Klavierspieler nicht allein auf ihrem Hocker sitzen. Neben ihnen schweigt ein Mann, dessen einzige Aufgabe es ist, die Noten umzublättern, wenn der Klavierspieler die Seite abgespielt hat. Das ist nicht einfach. Hohenhöcker weint oft und meidet den Kontakt zu Frauen. Der Notenumblätterer opfert sich auf. Er muß auf den Punkt wach sein. Der Beruf verlangt nicht nur Notenkenntnisse, sondern auch einen gut gepflegten Zeigefinger. Dieser wird bei Bedarf leicht befeuchtet, um ein Gefühl für die Seite zu behalten. Einmal sah ich Hohenhöcker, wie er mit einem Zeigefingerschutz durch den Regen eilte. Das sah schon komisch aus, aber auch nur, wenn man seinen Beruf nicht kannte. Der Zeigefingerschutz sieht aus wie eine leere Plastikflasche, in dem mein Freund seinen Finger gesteckt hatte. An seinem Zeigefinger baumelte ein riesiger Zeigefingerschutz und hielt den Finger trocken und sauber. „Der Zeigefingerschutz ist bei Notenumblätterern ein Muß. Jeder Beruf hat seine Accessoires. Der Taucher braucht einen Schnorchel, der Pilot eine Sonnenbrille. Es muß einen Zeigefingerschutz geben, denn das Umblättern einer Notenseite ist auch immer eine Frage der richtigen Fingertemperatur. Wer die Musik liebt nimmt das Wundern im Kauf.
 
17. September: Vergiß mein nicht: Herr Berninger sah im Fernsehen einen Film, in dem ein Gedicht zitiert wurde. Obwohl er das Gedicht nicht verstand, war er davon sehr berührt. "Glück war der der schuldlosen Vestalin hold/ Die Welt vergaß Sie/ als die Welt sie vergessen wollt/ Im ew'gen Sonnenschein, Erinnerung ungestört/ Jedes Gebet und jeder Wunsch erhört//" (Alexander Pope).
 
20. September: Starke Frauen: Starke Frauen können langweilig sein. Was macht man mit einer Frau, die man nicht beschützen darf?  
 
22. September: Der Vogel: Manche Menschen könnten fliegen, wenn sie es mehr üben würden. Man muß mehr an sich glauben als bisher, sonst kommen wir nicht weiter.
 
23. September: Der Schuhschieberkarton: Der Schuhschieberkarton steht im Flur eines ordentlichen Haushalts. Der Schuhschieberkarton wird hauptsächlich von Menschen mit schmutzigen Schuhen benutzt. Der Mensch mit schmutzigen Schuhen tritt in das Reich eines anderen Menschen mit diesem Schuhschieberkarton. Er kann mit diesem Schuhschieberkarton an dem Leben Anderer teilnehmen ohne den Boden durch seine schmutzigen Schuhe zu beschmutzen. Alles bleibt im Karton. Zum Schluß schiebt er so von dannen und läßt den Schuhschieberkarton für die nächsten Dreckspatzen am Ausgang stehen.
 


© Erwin Grosche - für die Musenblätter 2011
Redaktion: Frank Becker