Kunst

von Hanns Dieter Hüsch

© André Poloczek - Archiv Musenblätter
Kunst
 
Es gibt Zeitgenossen, die mögen Kunst oder Kultur nur in Scheunen, Schuppen, Fabriken, stillgelegten Schlachthöfen, Straßenbahndepots, ehemaligen Pumpwerken, alten Bunkern, Maschinenlagern und Fußballstadien. Aber wehe, Schmach und Jammer, Rotz und Trotz, dieselbe Kunst und Kultur wird auch ebenso in einem altgedienten Stadttheater - ganz schrecklich - oder gar in einem Staatstheater - noch schrecklicher - gemacht und veranstaltet, früher hieß dann immer die erste Ausrede, da muß man sich ja fein anziehen, alles so spießbürgerlich, als ob die Kunst von einem weißen Hemd abhängt! Nun, heute kann inzwischen jeder in jedes Theater kommen und gehen, wie er gerne mag, aber dann ist es den jungen wieder zuviel Plüsch und zuviel steife Gesellschaft. Nein, »Faust« ist nur in einem Schuppen Kunst, in einer Fabrik, in einer  Straßenbahnhalle. Mir ist das verdächtig. Geht es hier um Kunst oder um die Fabrik? Wenn ich etwas sehen will, es muß ja nicht gerade »Faust« sein, aber etwas, was mich begeistert, dann gehe ich sogar in die Höhle des Löwen, um die Ausschreitungen unserer Phantasie und die Entartungen unserer Herzen, also Kunst, zu erleben oder sogar zu machen. Dann ginge ich in den Kreml oder in den Vatikan, in ein tibetanisches Kloster ebenso wie in ein Zeltlager am Rande der Arktis, barfuß in Robinson-Tracht oder im Smoking und eleganter Begleitung. Und wenn Kunst montags in einer Scheune gemacht wird, gehe ich montags in eine Scheune. Und wenn sie dienstags in der Staatsoper gemacht wird, gehe ich dienstags in die Staatsoper. Ich habe keine Schwellenangst, weil mich weder die Scheune noch die Staatsoper interessieren, sondern nur das, was da gemacht wird: Kunst. Manchmal wird in einem Pumpwerk große Kunst gemacht und im Staatsschauspiel weniger und umgekehrt, oder es wird an beiden Orten Mist gebaut oder großartige Kunst gezeigt. Aber wir Deutschen, ob Jung oder Uralt, haben es anscheinend immer noch nicht begriffen und geschafft, ganz verschiedene Dinge nebeneinander existieren zu lassen, ohne Vorurteile, ohne Vorbehalt. Nein, wir Deutsche müssen immer schön trennen und einteilen in echt und unecht, richtig und wichtig, ernst und lustig, wertvoll und sinnlos, und immer gleich Zensuren austeilen. Ich fände es schön, wenn Vater im Smoking, Mutter im kleinen Schwarzen und die Kinder in ausgefransten Jeans und eingelaufenen T-Shirts oder auch umgekehrt, montags zusammen in die alte Oper und dienstags in den stillgelegten Schlachthof gingen. Toll! Das würde mich natürlich sofort an eine amerikanische Siedler- und Pionierfamilie erinnern, in der die einzelnen Familienmitglieder auch immer alles durch- einander getragen haben, Zylinder und verwaschenes Unterhemd und Omma immer das Gewehr auf den Knien, Verzeihung, ich schweife ab. Aber das sind eben die Entartungen des Herzens und die Ausschreitungen meiner Phantasie. Also: Kunst.



© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Es kommt immer was dazwischen" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung