Nicht nur am Hafenrand: Harbourfront Festival

Norddeutsche Notizen

von Andreas Greve

Andreas Greve - Foto © Weychardt
Nicht nur am Hafenrand:
Harbourfront Festival
 
Norddeutsche Notizen von Andreas Greve
 
Was würden Sie lieber tun: Zehn Stunden beim kompletten Durchlesen eines ganzen Romans eines irischen Schriftstellers zuhören oder anderthalb Stunden Liebeslyrik, teils direkt von der Erzeugerin, lauschen? Ich bin da eher wie Pu der Bär: Am liebsten beides. In diesem Falle ging das. Mit zweimal Busfahren quer durch Hamburg: Zweieinhalb Stunden hier, zwei Stunden dort und dann wieder zurück. Ich glaube nicht, daß die anderen Fahrgäste sehen konnten, wie sehr es mich zur Dichtung drängte. Selbst wenn – Hamburg gilt als tolerante Stadt. (Nur Altona ist noch toleranter!)
 
Wenn man die Füße still hält, merkt man gar nicht, daß sich ein Literaturfestival seinen Weg durch die Freie und Hafenstadt Hamburg bahnt. Das ist das Angenehme. Zehn Tage im September mit (über 100) Lesungen und Veranstaltungen an gut zwei Dutzend Orten der Stadt – auch auf echten Schiffen, auch in Kirchenschiffen oder in dinosaurischen Klangkörpern wie der „Fabrik“. Die Spatzen pfeifen es nicht von allen Dächern und so kann man eine ganze Menge Geld sparen. Ich hielt mich anfangs zurück, um dann am vorletzten Tag umso intensiver zuzuschlagen. Nämlich bei der Marathon-Lesung von Harry Rowohlt und Konsorten, Kolumnisten, Weggefährten und in Ausübung ihrer verdammten kulturellen Pflicht, den großen irischen - von Rowohlt hoch verehrten - Schriftsteller Flann O´Brien (nur einer seiner vier Namen) an seinem 100. Geburtstag zu ehren. Die angetreten Vorleser, zu denen sogar der Irische Botschafter in Deutschland gehörte, was man recht deutlich an seinem Akzent merkte, teilten sich die 270 Seiten. Sprachliche Unfeinheiten machte seine Exzellenz, der Diplomat, dadurch wett, daß er vorsorglich sieben Flaschen Tullamore Dew für die internationale Verständigung mitgebracht hatte. Und die irische Nationalhymne am lautesten mitsingen konnte.
 
Und dann war Geduld gefragt, denn Flann O´Brien wurde nicht gerade für sein schnurgerades und

Laurence Sterne, Joshua Reynolds pinx.
dramatisches oder zielführendes Schreiben berühmt, sondern für einen Stil, der an Laurence Sternes „Tristram Shandy“ oder auch an Joyce (Vorsicht Falle!) denken läßt – und solcherlei dann auch noch in einem Dutzend verschiedener Tonlagen dargeboten – von Franziska Augstein, über Bernstein und Martenstein bis zu Zippert. Die Unterschiede fingen schon damit an, daß eine wie selbstverständlich in der Geschichte vorkommende „Seele“ in der wörtlichen Rede von den einen hoch gesprochen und von anderen tief angelegt wurde. Harry las – was er die „Arschkarte ziehen“ nannte – von Anfang bis Ende die Fußnoten und nahm sich ab und an die Zeit für Anekdotisches, etwa daß die „Irish Times“ O`Brian wohl nur deshalb zum Kolumnisten gemacht hatte, weil es die eleganteste Form war, der Flut seiner Leserbriefe Herr zu werden. Wenn gerade keine Fußnoten anlagen, ging Rowohlt sich die Beine vertreten oder zum Büchertisch, wo seine Frau Ulla, die Buchhändlerin, saß oder auch backstage den Tullamore bewachen. Was weiß ich.
 

Ich für meinen Teil mußte schon mitten im Bernstein (die „Seele“ hoch sprechend) aufbrechen: in die Akademie der Künste beim alten Blumengroßmarkt. Deutlicher Tapetenwechsel, sowohl was die
Tapeten als auch das Publikum anging. Ein markanter Frauenüberschuß: viel gepflegte, hanseatische Weiblichkeit und ein nobler, honoriger Gastgeber, nämlich der neue Präsident der Akademie und einstige Ressortchef Literatur der „Zeit“, Ulrich Greiner. Wie bei altgedienten, leitenden Köpfen der Wochenzeitung nicht ungewöhnlich: diese Aura von Elder Statesman und teurem Herrenausstatter. Das Schöne war: Greiner ließ Ulla Hahn stets das erste, aber auch das letzte Wort und brachte sein analytischeren Zugang zur Lyrik nicht ernsthaft in Anschlag, sondern war damit auf dem Büchertisch vertreten, nämlich mit seinem 2009 erschienenen „Lyrik-Verführer“ .
 

Die Dichterin Ulla Hahn, die sich nicht ziert oder abgehoben wirkt, beherrschte dennoch die Rolle der Platzhirschin. Immerhin ist sie in der Kategorie „Ware am Markt“ ein wahres Auflagenschwergewicht mit sagenhaften 50.000 Exemplaren für ihren Gedicht-Debütband von 1981 „Herz über Kopf“ und auch ihr autobiographischen Roman „Das verborgene Wort“ - von Hermine Huntgeburth als „Teufelsbraten“ verfilmt – wurde mit einer Auflage von 500.000 (see the difference!) ein Bestseller. Die geborene Rheinländerin und naturalisierte Hamburgerin wollte mit Ulrich Greiner über ihre liebsten Liebesgedichte reden. Und natürlich über ihren allerneuesten Gedichtband mit dem Titel „Wi(e)derworte“. Dem liegt ein cleveres Konzept zugrunde, weil Gedichte aus ihrem ersten Band
jeweils links stehen und rechts mit einem neuen Gedicht geantwortet wird. Und so ist dieses „schauen, was die kleine Schwester damals gedacht und gedichtet hat“ quasi ein Oberthema. Ulla Hahn formulierte es auch noch anders, nämlich „sehen, was man für eine taube Nuß gewesen ist“. Clever ist es, weil die, die den Erstling überhaupt nicht kennen, ihn quasi mitgeliefert bekommen. (Ich z.B. hatte überhaupt nichts davon mitgekriegt, weil ich zu der Zeit im Ausland gelebt habe, was so zählt wie „entschuldigt gefehlt“.) Auch wenn die streckenweise recht kecke Hahn natürlich ihre eigenen Werke am besten findet, machte sie doch einen ausgiebigen Spaziergang durch die Literaturgeschichte, in der sie sich auch durchaus auskennt, z. B. durch die Herausgeberschaft von Liebes-Lyrik-Bänden bei Reclam. Und sie liest sehr gut – von Walther von der Vogelweide bis Gertrud Kolmar und Ingeborg Bachmann. Und von den wunderschönen Zeilen der Kolmar waren alle, wirklich alle, deutlich berührt – auch Ulrich Greiner, der obendrein souverän genug war, offen zu bekennen, daß er ihren Namen zwar kannte, aber bis dato kein einziges Gedicht von der 1894 geborenen und etwa 1943 in Auschwitz ums Leben gekommenen Gertrud Kolmar, die man durchaus als Else Lasker-Schüler ebenbürtig bezeichnen darf (Ich persönlich finde Kolmar besser). Ulla Hahn hat sich schon öfter um das Werk der großen Unbekannten gekümmert oder daraus vorgetragen und regte eine „nur“ Gertrud-Kolmar-Veranstaltung an.
 
Der Abend war schon fast eine Stunde alt, als Ulla Hahn einem verspäteten Besucher, der sich leise in die letzte Reihe setzte, zuwinkte. Das war ihr Mann und unser Ex-Bürgermeister Klaus von
Dohnanyi, der vermutlich gerade von seiner eigenen Harbour-Front-Veranstaltung kam, nämlich aus dem Pressehaus am Baumwall – dem Verlagshaus von Gruner und Jahr – wo er mit Jörg Dräger, der bis 2008 Hamburger Senator gewesen war, deren gemeinsames Buch „Dichter, Denker, Schulversager“ vorgestellt hatte. Wenn ich mich nicht ganz verhört habe, war es von Dohnanyi, der ein Weilchen später, als Ulla Hahn eines ihrer Lieblingsliebesgedicht - war es Eichendorffs „Mondnacht“ - auswendig aufsagte, einen Fehler vernehmlich korrigierte. Gedichte, so die Dichterin, sollten zuförderst laut gelesen werden, was sie souverän und klar tat, danach noch gern einen kecken Satz lieferte, so zu dem Gedicht von Heinrich Heine, in dem der eine eigentlich die andre heiraten wollte und ein dritter eine vierte, sodaß ein fünfter…Sie erinnern sich? In die Stille danach sagte sie, wie bewundernswert es doch sei, „in nur drei Strophen fünf Menschen für ihr Leben unglücklich machen“ zu können. Ich glaube, ich habe selten einer Lesung so intensiv gelauscht, vielleicht weil ich – hart geprüft von der Weitschweifigkeit eines O´Brien - hier mehr oder weniger die ganze Zeit wußte, worum es ging. Von ganz fern aus den Katakomben schickte die Markthallendisco ein Stampfen durch die eisernen Tragwerke, ein unablässiges umpabumpa-Störgeräusch, auch das konnte die Andacht unter dem weißen Tonnengewölbe nicht ernsthaft stören. Es war eine großartige Veranstaltung und eine herzerfrischende Angelegenheit – und ich bereute meine Busfahrt nicht. Weder hin noch zurück.
 
Es könnte der Eindruck entstehen, daß das Literaturfestival sich nur aus Hamburgern bespeist, es ist aber umgekehrt: In Hamburg wohnen einige und etliche, aus Film und Funk im ganzen Land bekannt. Wobei ich nicht zu sagen wüsste, ob Dr. Franziska Augstein dazu gehört und ob sie noch in dieser, von Hamburgern so gerne und so unbescheiden „die schönste Stadt der Welt“ genannten urbanen Agglomeration zu Hause ist, wie ihr Vater. Auch das ist wohl eher egal.
 
In der „Fabrik“ wurde vor geschwundenem Publikum noch getagt, man war nicht weiter als bis M, also
zum Kolumnisten Harald Martenstein gekommen. Auch er gar nicht schlecht – auch nicht seine Version der „Seele“, aber dann, nach Anna Mikula, da wurden alle bisherigen Lese-Darbietungen von der mächtigen Stentorstimme und der kolossalen Statur Bernd Rauschenbachs, Sekretär der Arno Schmidt Stiftung, weit überboten und selbst der langsam schwächelnde Harry Rowohlt schaute seinem Nebenmann dabei fasziniert zu. Danach konnte ich genausogut gehen – immerhin war es schon nach Mitternacht. Danach konnte nichts mehr kommen. Und bevor hier die Tinte getrocknet ist, werden ganz andere und extrovertiertere Kulturen, nämlich das Filmfest (/www.filmfest-hamburg.de/), durch Markt und Gassen von Altona wogen, das ja bekanntlich noch schöner und toleranter als das angrenzende Hamburg sein soll.
 
PS: Auf dem Büchertisch waren die lesenden Autoren, Kolumnisten, Herausgeber zwar vertreten, aber das verstorbene Geburtstagskind Flann O´Brien dominierte ganz klar in den verschiedensten Ausgaben des Kein und Aber Verlags, u.a. eine broschierte Gesamtausgabe im Schuber für 49.- Euro. Ich mag es gerne klein und handlich und wurde folglich am meisten von dem taschenkalenderkleinen - und irischgrünen Leinenbändchen mit einer Auswahl an Kolumnen des populären Iren angezogen:
 
Flann O´Brien Trost und Rat übersetzt, zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Harry Rowohlt in Leinen gebunden, 192 Seiten Format 9,0 x 14,4 cm – und apropos Taschenkalender: auch einen solchen gibt der Schweizer Verlag für das Jahr 2012 heraus.
 
Redaktion: Frank Becker