Zutrauliche Esel

Erzählung

von Wolf Christian von Wedel Parlow
Zutrauliche Esel
 
Es wäre eine Lüge, wenn ich behauptete, wir seien nur der Esel wegen gefahren. Aber niemand brachte zur Sprache, was uns letztlich bewog, seiner Einladung zu folgen. Ihn selber hätten wir auch in der Stadt treffen können. Es schien jedoch irgendetwas zu geben, weswegen es ihm wichtig war, uns dort draußen zu sehen, in seiner Einöde. Und er wußte wohl, daß es irgendeines Lockmittels bedurfte, um uns zu der Fahrt ins Nordbergische zu bewegen. So verfiel er auf seine Esel, obwohl er natürlich wußte, daß Esel für uns Weitgereiste nichts Besonderes waren. Wir alle waren schon mal in Nordafrika gewesen, Erwin sogar als Geschäftsreisender. Das Elendsbild einer unter überschwerer Last traurig vor sich hindösenden Kreatur, das jeder von uns im Kopf hatte, lud nicht im Geringsten zu einer Auffrischung der Erinnerung ein. Aber Hans bestand darauf, daß seine Esel etwas Besonderes seien. Bei unserem letzten Abend in der „Oberbergischen Stube“ – wir ließen dort regelmäßig das wöchentliche Yoga ausklingen – hatte er uns schließlich soweit, daß wir zusagten.
Gernot hatte als erster eingelenkt. Er fand wohl, daß es nun genug sei mit dem Spott über die Sprockhöveler Plüsch-Esel: „Was hieltet ihr davon, wenn wir nächsten Sonntagnachmittag zu Hans hinausführen? Ich habe an dem Tag noch nichts Anderes vor und hätte große Lust auf diese Landpartie.“ Erwin und ich waren sofort einverstanden. Im Unterschied zu Gernot, der als ehemaliger Landesgerichtsdirektor ständig unterwegs war mit Vorträgen über Jugendkriminalität, hatten Erwin und ich immer Zeit – nur vielleicht nicht gerade für einen Ausflug aufs Land. Aber in diesem Falle ging es offensichtlich nicht um das Landleben, um Schafe, Hühner und solche Sachen, nicht einmal um Esel, sondern um Hans selbst. Denn sichtliche Freude schien ihm die Verabredung zu unserem Erstaunen gar nicht zu bereiten. Er wirkte nach wie vor angespannt, so wie nun schon seit Wochen. Ohne daß wir uns untereinander mit Worten verständigen mußten, wurde uns plötzlich klar, daß wir unseren Besuch nicht länger hinauszögern durften.
Dank des technischen Schnickschnacks, mit dem die Autos schon damals ausgerüstet waren, würden wir die angegebene Adresse ohne große Umwege erreichen. Gernot fuhr, wie fast immer in den letzten Jahren, wenn wir zusammen unterwegs waren. Von der bestimmt sehr reizvollen Landschaft – Hans behauptete gar, man nenne sie die Elfringhauser Schweiz − bekam ich wenig mit, meine Aufmerksamkeit war ganz von meiner These in Anspruch genommen, die regelmäßig wiederkehrenden Hungersnöte am Horn von Afrika seien für die Hilfsorganisationen existenznotwendig.
 
Wir hielten an einem Gehöft, einem U-förmigen Ensemble, bestehend aus einem stattlichen Fachwerkhaus, einem Stallgebäude als Mittelteil und einer mächtigen Scheune. Hans stand an der Einfahrt, er hatte uns wohl schon von weitem kommen sehen. Er lächelte, aber die Anspannung war ihm immer noch anzumerken. Wir wurden durch einen langen Gang in das Fachwerkhaus und den dahinter liegenden Garten geführt. Ein Tisch stand da, auf einem durch eine Schicht feinen Schotter trocken gehaltenen Platz, drum herum etliche Gartenstühle. Hans hatte schon gedeckt. Er schenkte Kaffee ein und bot Streuselkuchen an. Es war einer dieser seltenen Sommertage, wie ich sie noch aus der Kindheit kannte, warm, ohne schwül zu sein, ein paar wenige, klar umrandete weiße Wolken am Himmel. Wir streckten unsere Beine aus, aber es kehrte nicht die innere Ruhe ein, die wir sonst so genossen, weil sie uns aufnahmefähig machte für die Geschichte, die einer von uns, mal der, mal jener, bei so einer Gelegenheit von sich erzählte, oft über Stunden.
Wir hätten jetzt fragen können, was es mit dem Gehöft auf sich hatte. Aber wir vermieden das Thema, es schien voller Untiefen. Wir hatten munkeln hören, er habe hier draußen eine Kommune gegründet. Jetzt schienen die Gebäude verlassen, überall schoß ungehindert das Unkraut hervor, draußen im Hof zwischen den Steinplatten, hier, wo wir saßen, und hinter den unbeschnittenen Buchsbaumhecken, die den Sitzplatz umfriedeten. Schon lange hatte hier keiner mehr Hand angelegt.
„Und wo sind nun deine Esel?“, rief Erwin ungeduldig.
„Ach ja!“, sagte Hans, als sei er aufgeschreckt aus einem Traum. Er stand auf und verschwand hinter dem Stallgebäude. Man hörte ihn rufen.
„Paßt auf, gleich sind sie da“, sagte er, als er zurückkam.
Und wirklich, gleich darauf hörte man von der an den Garten grenzenden Wiese leises Hufgetrappel, und schon zwängte sich das erste Grautier durch eine Lücke in der Hecke, zwei weitere drängten nach. Ganz ohne Scheu näherten sie sich bis auf Tuchfühlung, kamen aber doch nicht so nah, daß sie von dem Kuchen hätten naschen können.
„Verdammt gute Kinderstube!“, lobte Gernot.
Da hieß es natürlich, den Arm zu verrenken und die braven Tiere am Hals zu kraulen. Und wehe, man zog den müden Arm zurück, schon stießen sie einen mit der Schnauze in den Rücken, sanft zwar, aber hartnäckig.
„So ihr Schätzchen, genug gekrault! Ab mit euch auf die Weide!“, rief Hans. Tatsächlich, die Tiere machten kehrt und verschwanden durch das Loch in der Hecke. Wir drückten unsere Bewunderung aus.
„Doch, durchaus, das mußte man mal gesehen haben!“, sagte Erwin.
 
Bevor weitere Kommentare kamen, sagte Hans: „Ich möchte Euch noch etwas zeigen.“ Er stand auf. Wir folgten ihm durch den dunklen Gang in den Hof. Vor der Stalltür ganz rechts im Hof blieb er stehen und schloß umständlich auf. Durch die geöffnete Tür fiel etwas Licht in den Raum, die beiden Fenster waren mit dicken Planen verhängt. Aber das wenige Licht genügte, um einen Gegenstand erstrahlen zu lassen, den wir alle kannten, Erwin vielleicht nur aus der Zeitung, denn er war nicht mehr so gut zu Fuß, daß er Vergnügen dabei empfunden hätte, den Skulpturenpark bis in seine hintersten Winkel zu erkunden. Zwei Jahre mochte es her sein, 2013 war es, wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, daß die Stadt von dem Diebstahl erfuhr. Man hat damals recht genau rekonstruieren können, wie die Einbrecher zu Werke gegangen waren. Sie hatten den Zaun in einer Breite von drei Metern niedergelegt, waren mit dem Lkw bis an die Skulptur herangefahren, hatten sie mit einer akkugetriebenen Trennscheibe vom Sockel gelöst, mit dem Ladekran aufgeladen und waren in der Nacht verschwunden.
„Seine Honda habe er hier untergestellt, sagte mein Freund, als er vor einem Jahr auszog und mir die Schlüssel übergab“, erklärte Hans. „Er werde sie später holen. Als ich vor etwa vier Wochen nachsah, fand ich keine Honda, sondern dieses glitzernde Ding.“
„Du hast ihn doch sicher zur Rede gestellt“, sagte Erwin.
„Klar habe ich das. Seine Freundin habe immer nach Nicaragua gewollt, aber er hasse das Fliegen, deswegen sei er darauf verfallen, diese Skulptur zu beschaffen, als Warnung. Eine Gedichtzeile habe ihn darauf gebracht.“ Hans drehte das Licht an und zeigte auf die Wand über der Skulptur. „Hier, lest selbst!“
Und dort der blinkende Haufen Metall vielleicht der Rest einer Boing 747, stand in ungelenken schwarzen Buchstaben auf der weißen Wand.
„Man hört immer wieder, eigentlich seien die Dichter schuld“, bemerkte Erwin. „Man denke nur an Goethe, der mit seinem Werther Tausende in den Selbstmord getrieben haben soll.“
Ich fand die Situation zu ernst für witzige Bemerkungen. „Hans, eines steht fest, wir können jetzt nicht mehr so tun, als ginge uns das nichts an, du hast uns zu Mitwissern gemacht“, sagte ich vielleicht eine Spur zu vorwurfsvoll. Die anderen schwiegen betreten. Anscheinend waren sie in ihren Überlegungen schon viel weiter.
„Ich habe das Gefühl, daß du alles auf deine Kappe nehmen willst, um deinen Freund zu schonen“, sagte Gernot in seiner von uns so geschätzten ruhigen Art. „Dann bleibt meines Erachtens nur eines, du mußt mit Tony Cragg reden. Vielleicht findet ihr gemeinsam einen Weg, um die Sache ohne großes Aufheben aus der Welt zu schaffen.“
Hans nickte, er schien nur eine Bestätigung für einen schon gefaßten Entschluß gesucht zu haben.
Wir sprachen kaum ein Wort auf der Rückfahrt. Erwin summte ein Lied. Die Melodie erinnerte von Ferne an Kein schöner Land in dieser Zeit … Irgendwann unterbrach er sich und sagte unvermittelt: „Das war nicht sein Freund, das war er selbst.“
Einige Wochen danach erschien eine Notiz in den Zeitungen, wonach die gestohlene Skulptur aufgefunden und wieder auf dem angestammten Platz aufgestellt worden sei. Über den Fundort und die näheren Umstände der Entdeckung sei mit dem Finder Stillschweigen vereinbart worden.



© 2011 Wolf Christian von Wedel Parlow - Erstveröffentlichung in den Musenblättern