Spuren, Zeugen, Taten
Die deutschen Mordstatistiken sind unübersichtlich. Offensichtlich fürchten die Sicherheitsbehörden konkrete Zahlen. Die offizielle polizeiliche Kriminalstatistik des BMI (Bundeministerium des Inneren) ist ein trockenes, Fakten verschleierndes Zahlenwerk ohne jeden Aufschluß über die tatsächliche Situation. Immerhin ist aus anderen Quellen zu ermitteln, daß 2009 in Deutschland bei 80 Millionen Einwohnern 914 Morde registriert worden sind. Mit einer erschreckenden Vergleichzahl wartet schon der Klappentext des aktuellen Sach-Thrillers von David Simon auf, der seinem Buch "Homicide", eine Zahl vorausschickt, die Angst machen muß: 234 Morde wurden 2010 in der amerikanischen Großstadt Baltimore begangen, die mit 641.000 Einwohnern in etwa die Zahl von Hessens Hauptstadt Frankfurt/Main, Deutschlands "krimineller Metropole" hat. Im Vergleichszeitraum wurden für ganz Hessen 66 Morde registriert. Das mag die Situation verdeutlichen, in der die Protagonisten von Simons Tatsachenbericht ihren Dienst in der Mordkommission von Baltimore tun müssen. Schonungslos beschreibt er eine amerikanische Kriminalitäts-Situation, die hierzulande noch völlig undenkbar ist. Wer sich aber klaren Blicks mit der soziographischen und kriminologischen Entwicklung Deutschlands beschäftigt, muß feststellen, daß auch hier die Hemmschwelle der Gewaltanwendung in der kriminellen Auseinandersetzung bedenklich gesunken ist und die Politik, anstatt energisch gegenzusteuern, diese gefährliche Entwicklung opportunistisch weichspült. Deutschlands Bürger haben sich daran zu gewöhnen, daß ihr Leben nicht wirkungsvoll geschützt ist und die Behörden der Brutalisierung hilflos gegenüberstehen, ob das der "klassische" Mord ist, Jugendgewalt unter Alkoholeinfluß, linksautonome Krawalle, Fußballfan-Ausschreitungen oder durch Ballerspiele enthemmte Teenie-Mörder sind. Aber zu David Simons knallharter Baltimore-Analyse. Der Autor hat ein Jahr lang die Detectives Harry Edgerton, Donald Warden, Roger Nolan, Donald Waltemeyer, Jay Landsman, Tom Pellegrini u.a. unter ihrem Chef Lt. Gary D´Addario zu Tatorten und Vernehmungen begleiten dürfen, ihre Morduntersuchungen und Recherchen hautnah verfolgt, aufgezeichnet und daraus eine Reportage gemacht, die weitaus spannender als jeder Krimi ist. Es ist ernüchternd, mitzuerleben, wie diese Männer Tag für Tag im Schmutz der Gesellschaft wühlen müssen, mit dem Abschaum und dem Elend konfrontiert werden, welches das System produziert. Schießereien, Messerstechereien, das Blut, der Dreck, die Routine des Klinkenputzens, die bei Tätern und Zeugen zu überwindende Widerwilligkeit, alles jeden Tag und immer wieder. Und auch nach Feierabend sind diese Polizisten mit ihren Ermittlungen verwachsen. Denn wie kann man gänzlich abschalten bei 234 Morden pro Jahr, nicht gezählt all die anderen Verbrechen. "True Crime", in den USA reißerisch aufgemacht schon immer ein Publikationserfolg, bekommt mit David Simons Aufzeichnungen einen neuen Stellenwert. Weegees Anfang der 1940er Jahre entstandene Fotos von Schauplätzen des Verbrechens, der daraus resultierende Film "Naked City" könnte man als Paten der Arbeit Davisd Simons bezeichnen. Bei ihm findet die sachliche Berichterstattung ohne Schönfärberei oder Marktschreierei ihre Weiterentwicklung. Am Schluß stehen ernüchternde Wahrheiten: Jeder lügt. - Ein Opfer wird nur einmal getötet, der Tatort aber kann tausend Mal ermordet werden. - Die ersten zehn bis zwölf Stunden entscheiden über den Erfolg einer Ermittlung. - Es gibt ihn, den perfekten Mord. |
David Simon
Homicide
Aus d. amerik. Engl. v. Gabriele Gockel, Barbara Steckhan u. Thomas Wollermann © 2011 Verlag Antje Kunstmann 829 Seiten, Klappenbroschur
24,90 €
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