Gestützt auf den Querbalken

von Karl Otto Mühl
Gestützt auf den Querbalken
 
Beim Aufwachen blicke ich auf sie, die neben mir liegt. Mir fallen die hochgewölbten Augenbrauen auf. Ich frage sie, ob die da hingemalt seien; nein, sind sie nicht. Gut; sage ich, Umtauschen geht nicht; außerdem finde ich sie nett, sie machen das Gesicht so kindlich erstaunt. Mir fällt ein gezeichnetes Portrait von Johannes Rau ein, das im Museum hängt. Da kann man auch über die genial naiven, wenigen Striche lächeln.
 
Unten sitzt bereits Oma im Wohnzimmer, die anschließend mit mir Kaffee trinkt. Sie liest die Zeitung dabei, so hat jeder von uns Zeit für sich. Aber sie blickt auf, als ich leise vor mich hinbrumme.
 
 „The weather outside is frightful,
but the fire is so delightful,
and since we have no place to go,
let it snow, let it snow, let it snow.”
 
Das Lied kenne ich noch aus meiner englischen Kriegsgefangenschaft. Oma hat mir zugehört und sagt trocken: „Da hört man ja gar keine Melodie heraus.“
„Dann singe ich es zur Strafe noch einmal“, sage ich und singe. Sie hört aufmerksam zu. „Am Anfang ging es, aber am Schluß war es wieder genau so schlecht.“
„Scheiße!“ sage ich bedauernd. „Du bist ehrlich bis auf die Knochen. Aber muß man so sein?“
So laut wie jetzt habe ich unsere Oma, die im Hundertundeinsten ist, noch nie lachen hören. Es war ihre Überraschung. „Solche Ausdrücke hätten wir bei uns im Archiv erst üben müssen“, sagt sie.
 
Ich gehe hinaus auf Erledigungsreise. Erledigen ist heute mein Tagewerk. Der Himmel ist mit auseinandergezogenen Wolkenfeldern bedeckt, Wolkenfelder wie Fischgräten-Skelette. Inmitten des Weißen die weiß strahlende Sonne, die auch die umgebenden Wolkenballen durchleuchtet.
 
Gestern Abend die häufigen Kranken-Telefonate, die Klagen und das unhörbare Flehen der Leidenden – diese Sonne strahlt auf alle herab und hält sie, die Kranken, am Leben. Fast jeder von uns wird sich einmal zu ihnen gesellen müssen. Ich stelle mir irgendjemand vor, vielleicht mich in der Gestalt dieses Irgendjemand, der sich mit den Armen auf einen Querbalken des Großen Wagens stützt.
Das ist ein berauschender Gedanke, dieser Irgendjemand zu sein und, so lange ich will, aus dieser Welt herausspazieren zu können und herunterzublicken. Gestützt auf den Querbalken.
Aber was  bleibt, wenn sich herausstellt, daß der gegenwärtige Moment, der ja unsere einzige Ewigkeit ist, von uns erst als Vergangenes wahrgenommen werden kann? Und es Vergangenheit und Zukunft real gar nicht gibt? Was sind wir dann?
 
 
 
© 2011 Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern