Über besondere Fähigkeiten

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Über besondere Fähigkeiten
 
Kürzlich erlebte ich bei einem Aufenthalt auf einer Skipiste eine Sinnkrise. Ich hielt mich gerade in Österreich auf und nahm die Einladung eines Freundes an, in einer Skihütte seine geschätzten Germknödel mit Mohn und Butter zu probieren. Wie erstaunt war ich, als sich mir eine Welt offenbarte, von der ich zwar gehört hatte, die aber, mit eigenen Augen betrachtet, selbst den Aufenthalt auf dem Mond vertrauter erscheinen ließ. Wie verzaubert starrte ich auf die weiße Alpenlandschaft um mich herum, die von Tausenden von Menschen genutzt wurde, um in Sekundenschnelle im Sturzflug wieder verlassen zu werden. Mein Freund und ich saßen in einer Skihütte, in der ein Schnellrestaurant zu den üblichen Speisen, aber auch zu Germknödeln in Vanillesoße mit Mohn und Butter einlud. Während mein Freund sich auf den Weg zur Speisenausgabe machte, schaute ich immer noch fasziniert aus dem Fenster und machte mir Gedanken. Ich sah Kleinkinder mit Sturzhelm und Raumfahreranzug, die auf klitzekleinen Skiern den Abhang hinuntersausten, als hätten sie noch nie etwas gehört von Angst oder den Teletubbies. Eines war sicher, sie konnten schon jetzt besser Ski fahren als ich Schlitten. Ich fragte mich verwundert, warum mein Leben in Paderborn mir diese Welt vorenthalten hatte. Ich fragte mich, was die Kinder in Paderborn den Menschen der Alpenregionen voraus hätten und womit sie Gäste aus anderen Teilen der Welt beeindrucken könnten. Eines ist sicher, den Vorsprung, den die Österreicher im Skifahren haben, können wir Paderborner nicht mehr aufholen. Inzwischen stellte mein Freund das Tablett mit den beiden Germknödeln auf den Tisch. Sie sahen aus wie zwei runde weiße Brüste, die mit Mohnperlen bestreut waren. Sie schwammen in einem warmen See aus Vanille und schmeckten wie die Sünde süß. Ohne Scham kann ich zugeben, daß ich beim Vorstoßen auf ihr dunkelsüßes Pflaumenmusherz für Sekunden ohnmächtig wurde, bis ich erwachte und auf einmal wußte, was die Paderborner Kinder den anderen Kindern in der Welt voraus haben: die Paderborner Kinder können staunen. Im Antlitz des Großartigen stehen die Paderborner Kinder an der Scheibe des Wunders und drücken sich die Nasen platt. Was wäre Erfolg mickrig, was wäre Schönheit kümmerlich, wenn es nicht die Paderborner Kinder geben würde, die darüber staunen können. Laßt doch die anderen den Bären besiegen, laßt die anderen im Fernsehen den Hahn spielen - die Paderborner Kinder können staunen und entwaffnen die Welt mit ihrem „Kikeriki“. Der Staunende beurteilt nicht die Welt, er staunt darüber. O welche unvoreingenommene Gabe, o welch ein Glück! Aus Höflichkeit aß ich an diesem Erkenntnistag sogar meinen ganzen Germknödel mit Vanillesoße auf. Mein Staunen darüber machte es mir möglich, ihn am Ende sogar ehrlich „wundervoll“ gefunden zu haben. Natürlich sehnte ich mich schon dabei wieder nach der groben Schönheit des dunklen Paderborner Brotes, das mich so sachlich auf all die vielen, viel zu süßen Köstlichkeiten der Welt vorbereiten würde. 
 



© Erwin Grosche
Veröffentlichung aus „Warmduscher-Report“ in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung