Für Christa Wolf

Ein persönliches Wort für eine Zeugin der Zeit

von Jürgen Koller

Christa Wolf 2010
Foto © Susanne Schleyer Suhrkamp Verlag
Für Christa Wolf

Ein persönliches Wort
für eine Zeugin der Zeit
von Jürgen Koller
 
Meine Wege und die der viel gerühmten, auch viel gescholtenen Schriftstellerin haben sich nie gekreuzt, bei keiner ihrer Lesungen oder Vorträge, weder in der DDR, im damaligen Karl-Marx-Stadt, noch nach 1985 im Bergischen Land, in Wuppertal. Und doch verneige ich mich als einer, der eine halbe Generation jünger ist, mit Respekt vor der literarischen Lebensleistung und vor dem Werk der Verstorbenen, das mir im Osten und später hier im Westen Orientierung, Lebenshilfe, vor allem aber auch literarische Erbauung war und ist.
Als ich im Herbst des Jahres 1968 an der altehrwürdigen Leipziger Universität, die sich zu Zeiten sozialistischer Traumwelten mit dem Namen Karl Marx „schmücken“ durfte, mit dem Studium der Kulturwissenschaften und Germanistik begann, waren die intakte Pauliner-Universitäts-Kirche und die Ruine des Augustinums auf Befehl Ulbrichts wenige Monate zuvor gesprengt worden, und der kalte Wind der Niederschlagung des Prager Frühlings beherrschte das offizielle Studienklima. Und genau in diese frostige Situation fiel das Erscheinen der Erzählung „Nachdenken über Christa T.“, wenn auch nur in einer bescheidenen Auflage von wenigen tausend Exemplaren. Vorausgegangenen waren parteipolitische Eingriffe verbunden mit Diffamierungen der Autorin und weiteren gewollten Verzögerungen. Das Buch wirkte damals auf mich und meine Kommilitonen wie eine Offenbarung in versteinerter Zeit. Beim Kauf des Buches mußte ich mich übrigens per Unterschrift verpflichten, keine öffentliche literarische Propaganda damit zu machen. Welch eine Angst der Oberen vor dem gedruckten Wort einer kritischen, aber sozialistisch denkenden Schriftstellerin. Nur wer die Machtstrukturen im damaligen SED-Staat kannte, konnte beurteilen, welchen Mutes es 1965 von Christa Wolf bedurfte, auf dem 6. Plenum des ZK der SED – dem berüchtigten „Kultur-Kahlschlag-Plenum“ – gegen die offizielle Kulturdoktrin der SED zu polemisieren, wenn auch nur vorsichtig zurückhaltend. Der frontale Angriff, weder im Politischen noch im Literarischen, war zeitlebens nicht die Sache von Christa Wolf.
 
Mit dem Buch „Nachdenken über Christa T.“, über dessen Heldin Reich-Ranicki später sagen sollte, sie sei zwar an Krebs erkrankt, aber an der DDR gestorben, begann meine lebenslange Verehrung und Sympathie für Christa Wolf und ihr Werk. War mir der „Geteilte Himmel“ von 1963 literarisch noch zu spröde, hat sie mit „Kindheitsmuster“ (1973), für meine Generation überzeugend und lesbar den immer währenden Mutter-Tochter-Konflikt, hier unter dem beherrschenden Einfluß faschistischer

© Philipp Reclam jun., Leipzig, 1987
Ideologie, dargestellt. Zu den Sternstunden deutscher Literatur in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt für mich die in der deutschen Romantik angesiedelte Erzählung „Kein Ort. Nirgends“ (1979). Der Titel stand, ob beabsichtigt oder nicht, sei dahingestellt, synonym für die Standortbestimmung vieler Menschen in der DDR der späten 70er Jahre. Spätestens mit der Erzählung „Kassandra“ (1983), der tragischen, sich im Sinne der Neuzeit emanzipierenden Frauengestalt der altgriechischen Mythologie, hatte die Autorin den Höhepunkt ihres Schaffens erreicht.
Ruhmvolle Würdigungen, Anerkennungen jeglicher Art, literarische Ehrenpreise häuften sich, gerade auch in der alten Bundesrepublik. Die Feuilletons wollten nicht sehen, oder sahen bewußt darüber hinweg, daß sich die Autorin bei aller kritischen Sicht mit der DDR als der „sozialistischen Alternative“ zum kapitalistischen Westen identifizierte. Von der fiktiven Idee eines „humanen Sozialismus“ hat sie sich nie lösen können.
Wenn ich die vielen Bände von Christa Wolf, die sich im Laufe der Jahre in meinen Regalen angesammelt haben, werten sollte, dann kommt wohl dem schmalen Bändchen „Was bleibt“ kaum eine bleibende literarische Wertschätzung zu. Mit ihrer Unterschrift des Aufrufs „Für unser Land“ vom 26. November 1989 trat sie für die DDR und gegen den „Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte“ ein, noch immer hoffte sie auf eine „Fortentwicklung des Sozialismus“. Sie hatte, wie etliche DDR-Intellektuelle in jenen Tagen, den Ruf der Massen auf der Straße „Wir sind ein Volk“ überhört. Bis zu diesem November 1989 war Christa Wolf das gehegte und gepflegte Hätschelkind aus dem kommunistischen Osten, dem man seine sozialistische Gesinnung und die ihr vom SED-Regime gewährten Reise-Privilegien nachsah. Als sich aber Christa Wolf in „Was bleibt“ als Opfer des Regimes darzustellen versuchte, stürzten sich der Boulevard und die seriösen Magazine mit Häme und unsachlicher Verbissenheit auf die Schriftstellerin, um sie literarisch kaltzustellen und letztlich auch menschlich zu zerstören. Eben noch als mögliche Kandidatin für den Literaturnobelpreis gehandelt, wurde sie über Nacht zur literarischen Unperson. Was als „Literaturstreit 1990“ in die deutsche Geschichte eingegangen ist, war nach meinem Empfinden die infame Abrechnung mit einer Schriftstellerin, von der die Medienwelt erwartet hatte, daß sie nach der deutschen Vereinigung mit wehender Fahne ins freie, spätbürgerliche Westdeutschland wechseln würde. Christa Wolf, die sich gern als moralisches Gewissen der Ostdeutschen sah, war nach dem Bekanntwerden ihrer, wenn auch sehr schmalen Stasi-Täterakte mit Jahrzehnte zurückliegenden Vorgängen endgültig angeschlagen. Sie reagierte nicht souverän in der Öffentlichkeit, ein schaler Geruch nicht überzeugender Rechtfertigungsversuche blieb an ihr haften. Trotzig und beleidigt  zog sich zurück, sie wurde krank – und schwieg für viele Jahre.
 
Die auch von mir so lang ersehnte, nüchterne Abrechnung mit dem DDR-Regime blieb auch mit ihrem letzten großen Roman „Stadt der Engel oder „The Overcoat of Dr. Freud“ von 2010 aus. Christa Wolf war und blieb eine sozialistische Autorin, für die die untergegangene DDR dichterische Heimat und schriftstellerische „Reibefläche“ gewesen war. Es heißt: „Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein“ – es wurden zu viele Steine geworfen von Medien-Leuten, aber auch von Neidern, die so schuldfrei nicht waren.
Am 1. Dezember 2011 ist Christa Wolf nach schwerer Krankheit gestorben. Heute bin ich froh darüber, der Schriftstellerin im März 2009 zu ihrem 80. Geburtstag einen Geburtstagsgruß mit dem Hoffen auf weitere produktive Literaturjahre gesandt zu haben. Einige Zeit später erreichte mich ihr handschriftlicher Dank. Diese schlichte Postkarte wird mir helfen, die Erinnerung an die für mich bedeutendste deutsche Schriftstellerin unserer Tage lebendig zu erhalten - bei all ihrer Größe und bei all ihren Grenzen.