Goldene Brücke: Vom Abendstern zum Kotblech

Nachruf auf den Tod des Dichters Ernst-Jürgen Dreyer

von Dorothea Renckhoff
Goldene Brücke: Vom Abendstern zum Kotblech

Ein Opfer deutscher Spielplanpolitik –
Nachruf auf den Tod des Dichters Ernst-Jürgen Dreyer


Mitte der Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts lagen seine Stücke als Geheimtip auf allen Schreibtischen westdeutscher Dramaturgien: Ernst-Jürgen Dreyer war damals einer der ganz wenigen deutschen Autoren, die die Spaltung Deutschlands zur Kenntnis nahmen und auf hohem literarischem Niveau thematisierten. Für seinen ersten Roman ‚Die Spaltung‘ (1979), der nicht nur im äußeren Format, sondern auch in Erzählvolumen und Form übliche Formate sprengt, hatte er den Hermann-Hesse-Preis erhalten und wurde von der Literaturkritik hoch gelobt.
Riesig war das Medieninteresse 1985 bei der Uraufführung seines Stücks ‚Die goldene Brücke’, zumal das Werk den Preis der Frankfurter Autorenstiftung errungen hatte: die gesamte Großkritik füllte den Zuschauerraum der Münchner Kammerspiele und erlebte einen Spannungsbogen mit, der im nicht geplanten Absturz eines über den Zuschauerraum schwebenden Engels brach. Mit diesem nur in der Premiere mißglückten Regieeinfall kippte die Stimmung für den Autor in ganz Deutschland. Die Vielzahl der überregionalen Kritiken war nicht nur schlecht, sondern von einer Häme, deren Ursache noch heute schwer nachvollziehbar ist. Zu Recht merkte der Verlag der Autoren, dem Dreyer angehörte, damals an, daß keine der Rezensionen über eine oberflächliche Betrachtung hinauskam – den kompositorischen Aufbau des Werks nach dem Grundriss einer Sinfonie, den ungemein dichten und sprachlich nuancierten Dialog, die Ironie wurden gar nicht bemerkt.
Damit war der Glückswechsel im Leben des Theaterautors Dreyer eingeleitet: zwar kam es noch zu erfolgreichen Uraufführungen von ‚Das Double‘ (Staatstheater Kassel) und ‚Die Nacht vor der Fahrt nach Bukarest‘ (Städtische Bühnen Münster) – doch nach dem Verdikt der Großkritiker konnten Aufführungen an mittleren Bühnen ein allgemeines Interesse der Theater nicht zurückgewinnen. Der Vorgang sagt viel aus über die noch heute kaum veränderten Strukturen von Programmplanung und Pressehörigkeit an deutschen Theatern.

Mit der Wende schienen Dreyers Themen aus dem Focus des Interesses gerückt – alle drei genannten Stücke behandeln persönliche und familiäre Trennungen durch die Ost-West-Spaltung. Doch das eigentliche Thema des 1934 in Sachsen geborenen, 1940 nach Polen verschlagenen und 1945 nach Thüringen geflohenen, 1958 in die BRD gewechselten Dreyer war das, was sich in diesem jugendlichen Lebensweg abzeichnet: die Zerstörung privater Verhältnisse durch den Eingriff der Politik. Mit ‚Doppelter Boden‘ erzählt er 1990 die Geschichte einer schwangeren jungen Frau, die unwissentlich von ihrem Freund mit einer Bombe in der Tasche in ein Flugzeug geschickt wird, und in ‚Sprachkursul‘ erlebt 1992 eine Gruppe von Ausländern unterschiedlicher Nationalität und politischer Einstellung das Abenteuer, wenn Ausländer einander in der gemeinsamen Fremdsprache Deutsch begegnen. ‚Sprachkursul‘ war in Essen bereits zur Aufführung angenommen, scheiterte aber an Schauspielern, die sich weigerten, Dreyers Texte zu lernen: Der Autor hatte seinen Figuren aus ihrer sprachlichen oder dialektmäßigen Zugehörigkeit wie in seinen früheren Stücken eine Kunstsprache geschaffen, die mit zum Spannendsten in der neueren dramatischen deutschen Literatur gehört (und von den Schauspielern in Münster und Heilbronn auch gemeistert wurde).
Neben seinen Stücken veröffentlichte der promovierte Musikwissenschaftler eine Vielzahl musik- und literaturwissenschaftlicher Werke sowie musikhistorische Radiofeatures, in denen er sich fast immer engagiert und streitbar für die Wiederentdeckung zu Unrecht vergessener Autoren und Komponisten einsetzte.

Daß man Dreyer nicht nur Autor, sondern Dichter zu nennen hat, liegt jedoch in seiner lyrischen Tätigkeit begründet: seine mit seiner Ehefrau Geraldine Gabor gemeinsam erarbeitete Übersetzung von Petrarcas sämtlichen ‚Canzoniere‘ (1989)stand zu Recht lange auf der SWF Bestenliste, und auch die Übertragungen von Cavalcantis ‚Rime‘ (1991), Eminescus Gedichten ‚Der Abendstern‘ (2000) und d’Annunzios ‚Hortus Larvarum‘ (2009) zeigen ihn als bild- und sprachgewaltigen Partner der Originaldichter, deren Versmaß er gleichwohl perfekt ins Deutsche übernimmt.
Umso spannender die Konfrontation mit seiner eigenen Lyrik, die sich – wohl nach der langen Begegnung mit Petrarca – hauptsächlich auf die Sonettform konzentriert. Er öffnet diese Form zeitgenössischen Inhalten, und es gelingt ihm immer wieder das Kunstwerk, sprachliche Schönheit mit harscher Zivilisationskritik zu verbinden (u. a. ‚Hirnsfürze‘, 1988, ‚Gift und Gülle‘, 1995, ‚Kotblech‘, 1996, ‚Gottvaters Glans‘ 2002, ‚O zartes Blau des Nebels überm Stau…‘, 2007).
 
Ernst- Jürgen Dreyer ist am 3. Dezember 2011 in Neuss gestorben.
 
Dorothea Renckhoff