Haupthaar

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Haupthaar
 
Vorhin habe ich es im Spiegel gesehen: Mein Haupthaar wird dünner, ja, es schwindet sogar. Mit Schaudern stelle ich mir vor, wie mein völlig unbehaarter Kopf aussehen wird. Als der nackte Affe, der ich ja nach der Evolutions-Theorie bin, stehen mir eigentlich Haare zu. Der Gedanke, daß gut aussehende Männer trotz Glatze beeindrucken und daß man sie täglich zu Dutzenden sehen kann, tröstet nur schwach. Aber ich sollte es mir wirklich klar machen.
 
Die Friseurmeisterin wies mich darauf hin, daß mein Haar an den Seiten stark und kräftig sei. Sie sagte das mit großer Überzeugung. Ich sah ihr Gesicht im Spiegel, vor dem ich mit weißem Umhang saß. Es war zu erkennen, daß sie rückhaltlos auf meiner Seite stand. Wie alle Friseure ist sie ein Mensch, der weiß, was er sagt. Aber in diesem Falle glaubte ich eher an ihre Gutherzigkeit als an ihre Überzeugung, muß ich leider sagen.
 
Ich habe einen Freund, dem diese Haar-Verdünnung schon in jüngeren Jahren widerfahren ist. Er hat damals sofort eine Gegenmaßnahme ergriffen und sich eine Perücke konstruieren lassen. Von einem Tag auf den anderen stand er plötzlich völlig verändert vor uns, ja, er hatte seine Identität verloren. Ihn zierte ein prächtiger, mittelbrauner Wuschelkopf.
 
Inzwischen ist er älter geworden. Statt wie wir anderen in mehr oder weniger Ehren zu ergrauen, bleibt er jugendlich mittelbraun. Manchmal klagt er darüber, daß er unter der Perücke schwitzt. Aber was soll er tun? Sich zehn abgestufte Perücken anfertigen lassen? Anscheinend will er das nicht. Er ist ein Gefangener seiner Perücke. Ich weiß nicht, was ich ihm raten soll. Was lernt uns das, würde Fritz Reuter fragen.
 
Wenig Bedenkliches sehe ich bei gefärbten Haaren. Das ist reversibel, und jeder soll es halten wie er möchte. Schließlich kann man die Haarfarbe zur Ausstattung zählen, und das muß veränderbar bleiben. Vielleicht hat meine nächste Freundin rote Haare.



© Karl Otto Mühl