Weihnachten 1945 im Camp

von Karl Otto Mühl
Weihnachten 1945 im Camp
 
Das kleine Camp lag an einer ruhigen Zufahrtsstraße im Londoner Stadtteil New Malden. Ein Barackenlager, das aus fünf Nissenhütten aus Wellblech bestand. Die Gefangenen wurden zu jeweils 25 Mann auf drei Baracken verteilt, wählten sich jeder ihr Bett aus und deponierten ihre Seesäcke darauf. In der vierten Baracke befanden sich die Küche, der Heizungsraum und die Latrinen. Die fünfte Baracke, etwas kürzer, bestand aus dem Wachraum und einem Schlafraum für das Lagerpersonal, einem Sergeanten und zwei Soldaten
 
Nachmittags lungerte Gustav oft am Lagerzaun herum, der eher als Abgrenzung denn als Hindernis gemeint war. Er stand an der Giebelseite der letzten Baracke. Außen am Zaun führte ein Gehsteig entlang, auf dem die Passanten vorübergingen, oftmals neugierig hereinblickend. Braune, blattlose Sträucher zitterten vor der Baracke.
An einem Nachmittag hatte Gustav eine Begegnung, die längst in ihm vorbereitet war. Eine Gruppe kichernder junger Mädchen näherte sich. Eines, hübsch, mit braunen Haaren und einem ovalen Gesicht, blieb hinter den anderen zurück. Gustav spürte in diesem Augenblick heitere Zufriedenheit. Mit ungekannter Leichtigkeit sagte er zu dem Mädchen, als es auf seiner Höhe angekommen war: »Couldn’t you let me have a piece of it?« Er meinte den Schokoladenriegel, in den sie gerade biß.
»Here, take it all«, sagte sie großzügig und reichte das noch recht große Stück durch den Zaun. Sie trug einen grünen Tuchmantel lose über den Schultern, ein Kopftuch unter dem Kinn verknotet, rote, rührende, plumpe Schuhe.
»Thank you. You are nice.«
Gustav biß in den Riegel und sah dem Mädchen in die Augen. Erstaunlicherweise ging sie nicht sogleich weiter, sondern beobachtete ihn neugierig und schweigend, wie er die Schokolade aß. Das letzte kleine Stück bot nun Gustav ihr wieder an; sie nahm es und schob es sich gleich zwischen ihre nicht sehr vollen Lippen. Beide lächelten sich an.
»Können wir uns mal treffen?«
»Du bist Engländer, nicht wahr?« Sie blickte ängstlich zum Lagertor, aber da stand, wie so oft, kein Posten.
Nein, sagte Gustav, er sei deutscher Kriegsgefangener. Er schwöre es. Wann sie komme? Wie sie heiße?
»Jean heiße ich«, sagte sie. Und nach einer kleinen Pause: »Ja, heute abend um Elf.«
Als sie weitergegangen war, ging Gustav in die Baracke und putzte seine Schuhe. Er pickte die scharfen Aschenstücke, die sich in die Sohlen eingegraben hatten, heraus – aber als er auf die Uhr schaute, waren erst zehn Minuten vergangen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß die nächsten sechs Stunden vorübergehen würden. Jetzt hörte er knirschenden Marschtritt. Das erste der beiden Arbeitskommandos kam aus der Marmeladenfabrik zurück. Gustav rannte in die Küche, um Brot- und Käse­rationen auf die Tische zu verteilen. Inzwischen zogen schon die ersten Lagerinsassen mit Tabletts in den Händen am Küchenschalter vorbei. Nach dem Essen zog Gustav Hermann, den deutschen Lagerpolizisten, mit dem er sich gut verstand, zur Seite und berichtete ihm von seinem Rendezvous.
 
Als Jean nach Hause kam, in die Vier-Zimmer-Wohnung in einem einfachen roten Backsteinbau, herrschte das übliche Durcheinander. Die zwei kleinsten Geschwister tobten in der Stubenecke, zwei etwas ältere saßen lernend am Tisch. Das Essen für Jean war warmgestellt. Der Vater saß im Sessel und schwieg, wie meistens. Manchmal, abends beim Heimkommen, glänzten seine Augen. Dann hatte er einige Guiness getrunken. Nein, es gab nichts zu erzählen. Die Stiefmutter stellte Jean den Teller mit Porridge hin und streifte sie mit einem Blick mißtrauischer Scheu. Vor zwei Jahren, als ihr Vater wieder geheiratet hatte, war Jean vierzehn gewesen. Sie hatte sich nicht unterwerfen lassen.
Nach dem Essen warf Jean sich auf ihr Bett, das neben denen der Geschwister stand, und las Zeitungen. Zwischendurch suchte sie lange nach dem Lippenstift, den ihre Schwestern irgendwo versteckt hatten. Um Zehn machte sie sich ein wenig zurecht und ging aus dem Haus. der Vater schwieg; die Stiefmutter hätte gerne etwas gefragt.
Jean ging langsam am Camp vorbei und schaute durch den mannshohen Maschendrahtzaun, der von einer Stacheldrahtschlange gekrönt war. Vor einer der Schlafbaracken, im gelben Licht einer Laterne, saß Hermann und rauchte. Als er Jean er­blickte, machte er ihr ein Zeichen und verschwand im Gebäude. Gustav lag auf seiner Pritsche und döste; noch war er bereit, sein Erlebnis für einen Traum zu halten. Doch dann sagte Hermann, so gleichmütig wie möglich: »Sie steht am Zaun.«
 
»Du hast es nicht vergessen«, flüsterte er.
»Ich hatte es ja versprochen«, sagte sie ernsthaft. »Und Versprechen muß man doch halten.«
Am Ende des Zauns, dort, wo er mit der Hecke eines angrenzenden Gartens zusammenstieß, war es besonders dunkel. Hier blieben sie stehen. Jean zog zögernd eine Hand aus der Manteltasche und ließ sie von Gustav fassen, der durch die Maschen langte.
»Da hinten kommt ein Polizist«, flüsterte sie. »Ich muß gehen.«
»Nein«, sagte Gustav, »komm schnell herein. Komm herein, ich halte die Drähte auseinander.«
Die beiden schauten sich um. Außer Hermann, der wieder unter der Laterne saß, war niemand zu sehen. Die Engländer waren nicht in Sorge um ihre Gefangenen; fliehen wollte ohne­hin niemand mehr.
Jean stieg mutig auf einen Vorsprung in der Nachbarsmauer, von dem aus sie unter dem von Gustav auf der Gegenseite hochgehaltenen Stacheldraht hindurch über den Zaun klettern konnte. Es war eine umständliche Aktion, aber sie gelang. Rasch schlichen die beiden Hand in Hand an der Wachbaracke vorbei, in der die Engländer sich unterhielten und Karten spielten. Gustav öffnete die leise knarrende Tür zum Heizungsraum. Von einem Stapel leerer Säcke holte er ein paar herunter und breitete sie in der Ecke aus. Er schaffte einen Hocker zum Sitzen heran, eine Blechdose als Aschenbecher. Daß sie gekommen war! Daß sie zu ihm kam! Sanft berührte Gustav dieses hübsche Ge­schenk am Ellenbogen, er spürte Duft, Zärtlichkeit, Weichheit.
»Willst du rauchen?« fragte er. Sie nickte. Er schlich hinüber zur Schlafbaracke und kam mit Zigaretten zurück. Er mochte es, wie sie mit ihren noch kindlich kleinen Händen die Zigarette hielt. Woodbines schmeckten süßlich. Die grüne Schachtel lag verschwenderisch aufgerissen auf den Säcken. Während Jean noch rauchte, half Gustav ihr aus dem Tuchmantel. Er nahm den Geruch ihres Haares auf, gierig entschlossen, nichts unbemerkt zu lassen, nichts zu vergessen. Er übersah nichts, nicht die anfänglich widerstrebenden Beine, nicht die rührenden, wollenen Schlupfhosen, nicht die Bewegungen ihres wachsamen, federnden Körpers. Zuerst war Gustav von Eile getrieben, als ob es galt, etwas zu erreichen, aber nach und nach kam ihm ins Bewußtsein, daß ja schon alles erreicht und vorhanden war. Sie war hier, die Hände in seinem Nacken, ihr Gesicht an seiner Brust.
»Bist du gekommen, weil du mich gern hast?« fragte er.
»Oh yes, Gustav«, sagte sie. »Ich liebe dich wirklich.«
Sie erzählte ein wenig von sich. Die normalen Boys langweilten sie. Die wollten nichts als kissing und petting, oder sie wollten es überhaupt nicht. Dafür verlangten sie, daß man sich stundenlang ihr langweiliges Gerede anhörte. Jeans Lieblings-Song war »Bless you, my darling, my angel, / heaven is mine / and life is divine with you …«
Von den Deutschen wußte sie nicht viel. Die meisten wohnten wohl in Berlin. Sie waren bestimmt nett, so wie Gustav. Im Kino sah sie am liebsten Judy Garland, aber meistens fehlte ihr das Geld fürs Kino. Sie hatte eine kleine ängstliche Nase. Die Nägel ihrer Zehen waren in der Mitte scharf geknickt, vielleicht, weil sie zu enge Schuhe trug. Ihr Taschentuch verwahrte sie in einer selbstgehäkelten, kleinen Hülle.
Der dichte Haarpelz an ihrem Bauch im Schein des Koksfeuers; die sachliche Art, wie sie Hemd und Schlüpfer in die Tasche ihres unter ihrem Kopf liegenden Mantels stopfte – das alles war Jean, und Gustav würde es nie vergessen. Dieses Gegen-ihn-Drängen, dieses glänzende Anstarren beim Zigarettenglimmen, dieses »dear-dear-Gustav«, das schien ihm das Realste zu sein, was ihm je begegnet war.
Um fünf Uhr morgens gingen sie hinüber in die Küchenbaracke. Von den Straßenlaternen fiel Licht durch die Fenster. Hermann hatte abends schon die großen Wasserkessel für den Kaffee auf die kleinen Herdflammen gesetzt, damit sie morgens heiß waren. Während Gustav ein paar Brotscheiben abschnitt, goß Jean eine Kanne Tee auf und schenkte ein. Sie aßen Marmeladenbrote. Die ganze Zeit blickte Jean Gustav unverwandt ins Gesicht.
»Du bist nett«, sagte Gustav.
»Ich muß jetzt gehen«, sagte sie ernst. Sie stand in der Mitte der Lagerküche, zwischen Kübeln und Blechwannen, Tellersäulen und Schöpflöffeln. Sie wartete, daß Gustav sie umarmte oder hinausschob, oder bis er etwas sagte.
»Du hast Mut«, sagte er. »Ein anderes Mädchen hätte es nicht gewagt, hereinzukommen.«
Sie lächelte.
Nachdem sie wieder heil über den Zaun gekommen war, zog sie Gustav durch die Umzäunung zu sich heran und küßte ihn. Er spürte den kalten Draht im Gesicht. »Dear Gustav«, sagte sie wieder.
 
Gustav schaute durch das schwarzglänzende Fenster der Wachbaracke. David und Jack schliefen, Whisby war nicht da. Jack lag in Uniform auf der Pritsche, seine Schuhe lungerten müßig unter einem Stuhl herum. Sein Gesicht war ein atmendes, rötliches Organ im Licht der abgedeckten Schreibtischlampe.
Gustav lehnte am Querbalken des Lagertors und blickte auf die dämmerige Straße. Er genoß eine Art Überblick über sein gegenwärtiges Leben. Angekleidet legte er sich für die letzte Stunde Schlaf auf seine Pritsche inmitten der schlafenden Kame­raden. Später, als die Arbeitskommandos das Camp verlassen hatten, sah er nach der Heizung. Anschließend reinigte er sich vom Kohlenstaub und ging zum Zaun. Er wartete, bis er Jean kommen sah. Sie war mit anderen Mädchen auf dem Weg in die Fabrik. Lächelnd gingen sie an ihm vorbei. Aber Jean kam noch einmal zurückgelaufen und sagte atemlos: »Gustav, I love you. Sie sagen, du bist ein hübscher Kerl. I love you.«
Am nächsten Tag spielte die Mannschaft des Camps Fußball gegen die Gefangenen eines anderen, nahegelegenen Lagers. Die gesamte Besatzung marschierte dorthin, die einen als Spieler, die anderen als Zuschauer. Obwohl Gustav sich für einen schlechten Fußballer hielt, war er aufgestellt worden. Es war ein wunderbares Gefühl, frei über das riesige Fußballfeld zu laufen, wichtig zu sein, den Ball zu treffen, zu spüren, wie alle aus seinem Camp dachten: Der kämpft für uns. Gustav verstand, warum Männer kämpfen wollen.
Auf dem Heimmarsch dachte er ausnahmsweise einmal nicht an Jean, bis er sie plötzlich am Lagertor stehen sah, bei Jack, der Wachdienst hatte. Gustav schlich sich inmitten der Kameraden an ihr vorbei, und tatsächlich sah sie ihn nicht. Die Kolonne lief gleich hinter dem Tor auseinander, aber Gustav blieb für einige Minuten in der Nähe des Tors. Jack hielt sich am Querbalken fest und ließ sich spielerisch hin und herpendeln.
»Nein«, hörte Gustav Jean sagen, »das würde ich niemals tun.« Was sie wohl meinte?
»Auch nicht, wenn er richtig toll ist?« fragte Jack.
»Er muß aber ganz, ganz toll sein«, sagte Jean.
»So wie ich?«
Jean wiegte den Kopf: »Ja, so ähnlich wie du.«
»Warte, ich komme raus«, sagte Jack. Er rief David herbei, schnallte den Gurt um, setzte die Ballonmütze auf und schlenderte mit Jean davon, die sich nur einmal umdrehte, schnell und scheu, so als ob sie Gustav doch bemerkt hatte.
»Jack hat eine neue Freundin«, sagte David zu Gustav.
 
Die Wochen und Monate gingen ins Land. Der Alltag in New Malden war bis auf Gustavs gelegentliches Liebesleben ereignislos; ein Tag glich dem anderen und den Gefangenen blieb wenig zu tun als abzuwarten. Jeden Vormittag las Gustav die Zeitungen, die auf dem Tisch in der Wachstube lagen. Natürlich fand er ­darin immer wieder Bilder aus dem besiegten Deutschland, Ruinen­säulen, soweit das Auge reichte, Schutt, Trümmer, wie Bett­ler gekleidete Menschen, Eisenbahnzüge, an denen Men­schen­trauben hingen. Der erste Nachkriegswinter offenbarte deutlichst den Zustand des Landes. All das löste in Gustav kein Entsetzen aus. Er fürchtete nur den Anblick gequälter Menschen. Täglich fühlte er Dankbarkeit, daß die Eltern überlebt hatten.
Die Heimkehr war inzwischen kein ferner Traum mehr. Ein englischer Publizist, Victor Gollancz, kämpfte bewundernswert mutig für die baldige Rückkehr der deutschen Kriegsgefangenen. Victor Gollancz war Jude. Gustav interessierte sich natürlich für diese heftig ausgetragenen Diskussionen, aber es sollte noch eine Zeit dauern, bis er in vollem Ausmaß begriff, wie menschlich, wie barmherzig, selbstlos und vernünftig hier ein Politiker für ihn und die anderen eintrat, für seine ehemaligen Feinde.
Die Eltern wohnten noch im selben Haus wie vorher. Sie schrieben, daß sie sein winziges Zimmer bisher gegen alle Einquartierungen von Flüchtlingen verteidigen konnten, weil die Wohnung sowieso sehr klein war. Zur Zeit hatten zwar doch drei Menschen bei ihnen Unterschlupf gefunden, aber das war Familie: Käthe, die Mutter von Marie, war zusammen mit einer Schwiegertochter und dem zehnjährigen Enkelsohn von den Polen aus Schlesien vertrieben worden. Zu Fuß waren sie aus Langenbielau aufgebrochen und nach Bayern marschiert, die kleine alte Frau mit ihren fünfundsiebzig Jahren. Jetzt waren sie in Wuppertal. Gustav hatte seine Großmutter zum letzten Mal gesehen, als er fünf war, er erinnerte sich kaum an ihr Gesicht. Aber Marie hatte einmal gesagt, daß sie genau so aussah wie Onkel Karl.
Für Gustavs Rückkehr hatte Mutter Marie sogar schon Wäsche und Hemden beschafft, wie sie schrieb, Kleidung, die gerade sehr kostbar war. Alles lag in seinem Zimmer bereit. Die Zukunft vor Gustav weitete sich aus. Er hatte ein Zimmer, einen Schreibtisch, eine Liege, einen Kleiderschrank. Vom Fenster aus würde er in die Schlucht der Nordstraße blicken.
Gustav sah Jack gegen zehn Uhr abends zurückkommen und in der Wachstube verschwinden. Er stand noch eine Weile am Zaun, wie jeden Abend, als Jean plötzlich aus dem Dunkel auftauchte. »Soll ich hereinkommen?« flüsterte sie.
Dieser Jack hatte sie mit seinen Händen angefaßt, pickelig, ungesund aussehend und doch zäh, ein Mann mit eingezogenen Schultern und schmalem, dürftigen Kreuz. Über dem mageren Hintern bauschen sich die Falten der zu weiten Hose. Aus dem ungeformten, kleinen Mund hatte sein Atem das Mädchen an­geweht. Gustav blickte sich vorsichtig um: »Komm herein.«
Als sie im Heizungsraum nebeneinander saßen und rauchten, fragte er: »It was funny with Jack?«
»Oh, I don’t know. I don’t like him, you know.«
»Warum gehst du denn mit ihm fort, wenn du ihn nicht magst?«
»Ich glaube, ich bin ihm aufgefallen, ich meine, er hat mich oft hier in der Nähe gesehen. Da habe ich so getan, als ob ich wegen ihm käme.«
Gustav blickte sie zweifelnd an. Vielleicht hatte sie Jack doch nachgegeben? An einer Hausmauer? Aber Jean schien Gustavs Mißtrauen nicht einmal zu ahnen.
Über dem Camp lag niedriger, weißlicher Nebel. Die Nacht war kalt. Gustav breitete die Decken und Säcke aus und sie lagen da bei glühender Heizung und Koksgestank. Jean erzählte von einem Traum.
»Du und ich, wir sind morgens aufgewacht, und die Sonne schien. Du nahmst mich in die Arme. Wir sind dann in die Stadt gegangen, und abends saßen wir ganz nahe beieinander und hörten Radio. Oh, Gustav, wenn du weggehst, will ich sterben.«
Sie begann, in ihrem Kunstledertäschchen zu kramen. »Weißt du«, sagte sie,
»übermorgen ist ja Heiligabend. Morgen bringe ich Tannenzweige zu Mutters Grab. Hier, ich habe was für dich zu Weihnachten.«
Sie holte aus dem Täschchen eine Tafel Schokolade, und aus der Manteltasche eine Papierrolle. Aufgerollt zeigte diese in Buntdruck einen niedlichen Pudel. Der Hund hielt den Kopf schief und hatte eine Tabakspfeife zwischen den Zähnen.
»Ein schönes Bild«, sagte Gustav. Er lächelte nicht, Jean lä­chelte ja auch nicht. Alles was sie sagte, war ihr ernst.
»Ich habe auch etwas für dich«, sagte er. Aus der Tasche seines Hemdes, das über dem Hocker lag, ehelich vertraut mit Jeans Rock und Pullover, holte er ein vergoldetes Zigarettenetui, das er von einem Kameraden gegen Kantinengeld eingetauscht hatte. Jean hielt es in der Hand wie einen Schatz, und sie betrachtete es noch oft in dieser Nacht.
Gustav sagte: »Wenn es so neblig bleibt, könnte ich morgen mit dir zum Friedhof gehen. Hermann leiht mir bestimmt Zivilklamotten, die er hier irgendwo versteckt hat.«
»Das wäre wundervoll. – Wann fährst du denn nach Deutschland? Nach Weihnachten schon?«
»Nein. Noch lange nicht.«
»Im Februar?«
»Auch noch nicht. Wenn sie es so machen, wie die Zeitungen schreiben, komme ich erst im April oder im Mai an die Reihe.«
»Das ist ein großes Glück für uns«, sagte Jean. »Ich werde jede Nacht kommen.«
 
Am nächsten Nachmittag war es sehr neblig. Als Gustav aus der Baracke trat, konnte er kaum zwei Meter weit sehen. Auf dem Wäscheplatz schob er Steine beiseite, wie Hermann es ihm verraten hatte, und zog einen unauffälligen Mantel und einen Hut aus einem Kekskanister heraus. Die Sachen waren perfekt, nur Gustavs genagelte Schuhe paßten nicht dazu.
Als Jeans Schritte vertraut auf dem Pflaster klapperten, kletterte Gustav mit dem Kleiderbündel rasch über den Zaun. Auf der Straße war nicht viel los, trotzdem blieb das Unternehmen riskant. Jean nahm ihn in Empfang und half ihm rasch in den Mantel. Arm in Arm gingen sie durch die stillen Vorstadtstraßen.
Vor einem Obstgeschäft lag eine graue, zusammengeknüllte Papiertüte. Jean versuchte gegen sie zu treten und verfehlte sie. Gustav traf sie, und dann liefen sie eingehakt hinter der Tüte her und schubsten sie abwechselnd weiter. Jean sagte: »Ich glaube, wir könnten auch zusammen Fußball spielen. Wir können alles zusammen. Im Sommer komme ich nach Deutschland.«
»Geht das denn?«
»Ich schleiche einfach auf ein Schiff.«
»Vielleicht landet ihr in Cuxhaven.«
»Cuxhaven?« wiederholte sie. »Kommt man dann zu dir?«
»Dann mußt du über Münster nach Wuppertal fahren. Du kommst durchs Ruhrgebiet. Da ist alles schwarz von Kohlenstaub.«
»Oh, die Ruhr«, sagte sie; den Namen kannte sie aus den zahl­losen Berichten über den Bombenkrieg. »Ist dein Vater reich?«
»Er ist Boss von einer Werkstatt.«
»Dann ist er reich«, nickte sie. »Wenn er meine Kleider sieht, läßt er mich erst gar nicht ins Haus.«
Gustav dachte an Vater Karl und an die Verlegenheit, in die er käme, wenn ein sechzehnjähriges Mädchen an der Türe klingelte. Der Vater würde vielleicht sagen: »Ob sie nicht besser im Gasthaus schläft? Sonst reden doch alle darüber.«
Die Häuser blieben zurück; nur noch Hecken waren um de beiden herum. Keine Geräusche, nur das Knirschen ihrer Schritte auf dem hartgefrorenen Aschenweg. Vor ihnen erstreckte sich ein großer Friedhof hügelaufwärts. Als sie vor dem Grab von Jeans Mutter standen, sagte: »Mutter hätte dich sicher gerne gekannt.«
»Ja, vielleicht«, flüsterte Gustav verlegen.
Es begann zu dunkeln. Jean schien dieser Besuch wohlgetan zu haben, zusammen mit Gustav. Fünf Minuten später lagen sie im Schutz einer Hecke auf dem schneeüberfrorenen Rasen des Friedhofs und drängten ineinander. Ihr Atem dampfte. Gustav hatte das Gefühl, immer mehr Glück einzuheimsen, je öfter es stattfand.
»Ich muß ins Camp«, sagte er schließlich. »Es kann immer mal was sein.«
»Was kann dir passieren?«
»Sie schneiden mir die Haare ab und schicken mich in ein Straflager, wo man nur eine Wolldecke hat und schlechtes Essen bekommt.«
»Dann schenkst du mir die Haare«, lachte sie.
Als sie sich dem Camp näherten, sahen sie am Lagertor einen Polizisten, der sich mit David unterhielt.
»Verdammt«, zischte Gustav, »was mache ich jetzt? Der sieht mich, wenn ich über den Zaun steige.« Der Gedanke war zwar ungewohnt, aber immerhin waren Jack und David Amtspersonen, die auf ihn aufzupassen hatten.
»Wenn sie dich kriegen, lasse ich mich auch verhaften«, flüsterte Jean. Gustav blickte in ihre Augen und sah etwas aufglimmen, aufstrahlen; wahrhaftig, es war keine Einbildung. Es mußte Liebe sein.
Die beiden drängten sich dichter an die Hecke, und Gustav ließ sich zurücksinken. Die harten Zweige kratzten über sein Gesicht. Er arbeitete sich nach hinten durch das Gestrüpp, bis er im benachbarten, verwilderten Garten lag. Jean blieb noch eine Weile in gespielter Umarmung an der Hecke stehen. Als sie gegangen war, rannte Gustav gebückt zum seitlichen Lagerzaun, kroch durch eine Lücke und versteckte als erstes Hut und Mantel wieder im Kekskanister.
Die Hände in den Hosentaschen, trat er nun an den Lagerzaun, als sei er niemals fortgewesen. Dann besorgte er die Heizung und ging sich waschen. Als er mit Tee in die Wachstube kam, traf er nur David, der einen Brief an seine Frau schrieb, mit schlecht gespitztem Bleistift auf kleine, linierte Blätter.
»Danke«, sagte David, »die andere Tasse kannst du nehmen. Jack ist mit ’nem Mädchen weg.«
»Wo geht er denn hin in der Kälte?« fragte Gustav und schenkte ein.
»Erst ins Kino und dann in die Büsche«, raunte David.
»Ach so«, lächelte Gustav.
David legte den Stift zu Seite. »Hör mal«, sagt er.
»Ja?«
»Ich muß dir was sagen. Neulich mußte ich nachts raus, und ent­­gegen den Vorschriften bin ich nicht zum Lokus gegangen, son­dern an die Barackenwand. Und da sieht man eben so manches.«
»Ach so«, sagte Gustav leise noch einmal und spürte ein Stechen in der Magengegend. »Und jetzt?«
»Nichts«, sagte David. »Es gehört ja nicht zu meinen Pflichten, an die Barackenwand zu pinkeln. Also muß ich auch nichts gesehen haben. Etwa dich. Aber da ist noch was anderes.«
Gustav sah ihn fragend an.
»Jack ist mit deinem Mädel weg. Er hat es mir gesagt. Ich finde, das ist nicht fair von ihr.«
Gustav schluckte und versuchte, Jean zu verteidigen. »Vielleicht gibt Jack nur an? Vielleicht will sie ihn nur beruhigen? Vielleicht erreicht er überhaupt nichts bei ihr.«
»Nimm im Zweifelsfall immer an, daß sie es tun. Dann liegst du meistens richtig.«
 
Kurz vor halb elf ging Gustav hinaus und wartete am Zaun. Es dauerte nur fünf Minuten, bis Jean vorbeikam. Sie drückte sich gegen den Zaun. Gustav hielt zwei Schritte Abstand.
»Alles okay?« fragte Jean erstaunt.
»Ja.«
»Dann komm doch näher.«
»Warum?«
»Ich verstehe dich nicht. Kannst du nicht mit mir sprechen?«
Gustav trat näher. »Du warst mit Jack fort?«
»Woher weißt du das?«
Gustav mußte vorsichtig sein; er durfte David nicht gefährden. »Hermann war draußen. Er hat euch gesehen.«
»Oh, Gustav«, sagte Jean verzweifelt, »du darfst nichts Böses denken. Jack fragte, ob ich mit ihm ins Kino ginge, oder ob ich mit einem Gefangenen verabredet sei. – Ich mußte mitgehen, verstehst du?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte Gustav.
»Darf ich reinkommen? Bitte, Gustav.«
»Wir reden morgen darüber«, sagt Gustav.
»Gustav, ich liebe dich. Ganz bestimmt. Ich komme morgen früh um halb fünf vorbei, vor der Christmette. Ich schaue, ob du schon auf bist.«
Am stockdunklen Morgen erschien Jean wieder am Zaun. Gustav konnte im Dunkeln nicht gleich sehen, daß sie ihre besten Kleider angezogen hatte. Erst vor der Baracke unter der Laterne bemerkte er es. »Dich erkennt man ja nicht«, sagte er. »Du hast einen Pelzkragen am Mantel.«
»Es ist mein neuer. Bitte, Gustav, laß uns hineingehen. Ich bin ganz verrückt nach dir.«
 
Nach dem Abendessen servierte Gustav den Tee. Jack stand ausgehfertig im Raum. »Nur einen Schluck«, sagte er, »ich muß fort.«
»Immer die Frauen …« stöhnte David von der Seite.
Jack lachte geschmeichelt. »Naja, heute ist schließlich das Fest der Liebe!« Er legte die Hand senkrecht an die Stirn, um den Sitz seiner Mütze zu prüfen. Als er gegangen war, fragte Gustav David, ob er Jean träfe.
»Das dürfte doch wohl klar sein.«
Gustav schlich hinaus. Es war ihm nicht klar, was vor sich ging. Selbst wenn die beiden nichts miteinander hatten – was eher unwahrscheinlich war –, wußte er nicht, was Jean dachte oder wollte. Er fühlte sich in einem Irrgarten von Rätseln und Gefahren.
Gustav knöpfte seine grüngefärbte, englische Feldbluse zu, ging zum Zaun und stieg hinüber. Er schlenderte die Straße hinunter, in die Richtung, die wohl auch die beiden genommen hatten. Wenn er an Laternen vorbeiging, leuchteten auf seinem Rücken weiß die Buchstaben »PoW« auf. Obwohl er sich sagte, daß er die Wahrheit nicht herausfinden würde, ging er schneller. Die Straße war leer, kaum jemand war unterwegs. In die Stille hinein ertönte das Quietschen eines bremsenden Jeeps. Um Gus­tav herum waren plötzlich Khaki-Uniformen, weiße Schnüre, rote Mützen: Militärpolizei.
 
»Make it snappy, old boy«, sagte einer. »Come on.«
Nach einer halben Stunde saß Gustav bereits im Hauptquartier der Gefangenenverwaltung. Vor dem Offizier vom Dienst sagte er aus, er habe nur spazieren gehen wollen. Das glaubte man ihm nicht, Spazieren zu gehen war den Gefangenen bereits stundenweise erlaubt, aber natürlich bei Tage. Also fügte Gustav hinzu, er habe gehofft, eine Bäckersfrau namens Rose zu treffen, die ihn einmal am Zaun angesprochen habe. Wo sie wohne, wisse er nicht.
Schon bald saß er mit kahlgeschorenem Kopf in einer Gerümpelkammer. Es war ein nebliger Vormittag. Er bekam etwas Brot und Tee, und am Mittag durfte er sogar in dem Park hinter dem Gebäude spazieren gehen. Am schmiedeeisernen Tor stand ein Posten mit Maschinenpistole. Auf seinen Runden kam Gustav an frierenden Rosensträuchern vorbei und an einem kleineren Gittertor in der Mauer. Erst bei der zehnten Runde merkte er, daß Jean, vor Kälte zitternd, hinter dem Gitter stand.
»David hat es mir gesagt«, flüsterte sie. »Warum bist du fortgegangen? Ich liebe dich wirklich und wahrhaftig, Gustav.«
»Ich habe dich eben gesucht«, sagte Gustav leise.
»Ich komme zu dir nach Deutschland. Ich sage Tag und Nacht ›Dear Gustav‹ vor mich hin.«
Gustav ging weiter. Er hatte gesehen, daß der Posten zu ihm herüberschaute.
Wieder kam er am Gitter vorbei. »Du gehst jetzt besser«, flüster­te er. »Wir sehen uns ja wieder. Ich komme erst nach Schottland, ich habe es gestern erfahren, und in ein paar Monaten geht es heim.«
»Auf Wiedersehen, lieber Gustav. Ich glaube, ich werde sterben.«
Der Posten kam ein paar Schritte auf die beiden zu. »Die Zeit ist um«, rief er. »Komm rein.«
»Ich schreibe dir«, sagte Gustav noch rasch. »Ich schreibe dir. Ich komme wieder. Listen! I’ll be back!«
»Yes. Yes. Yes.«
 

© Karl Otto Mühl