Der Handkuß

von Karl Otto Mühl
Der Handkuß
 
Der Morgen fängt verheißungsvoll an. Der Gärtnermeister, den ich als einzigen Stammgast in der Bäckerei treffe, läßt sich von mir fotografieren, möchte aber in den nächsten Tagen eine neue Aufnahme, bei der er dann seine neue Zahnprothese anlegen wird. Ich sähe da kein Problem, versichere ich ihm.
 
Zuhause ist nur Oma anwesend. Ich habe sie für eine Stunde allein gelassen;  die Hausherrin ist zu einem Kurs, der den ganzen Tag dauern wird. Für mich, Oma und eventuelle Besucher ist ein Topf mit Erbsensuppe bereitgestellt worden. Dies wissend, habe ich auf dem Herweg den arbeitslosen Nachbarn, der gerade die Gehwege von Unkraut befreit, eingeladen, um die Mittagszeit zum Essen dazuzustoßen.
Aber zunächst kommt der Maler Arnfried aus Mainz zu einer Tasse Kaffee; gerade in dem Moment, in dem auch unsere Tochter gekommen ist und die Oma zum Frühstückstisch führt. Die Oma schlurft vorsichtig an der Hand unserer Tochter ins Zimmer, der Maler steht neben dem Sessel, sie streckt ihm die Hand entgegen.
Er ergreift sie, verneigt sich und begrüßt Oma respektvoll mit Handkuß.
Er ist so und ich verstehe ihn. Ich bekomme feuchte Augen. Solch einen Augenblick muß einfach jemand bewahren, er muß.
 
Ich spüre immer noch eine Träne, als ich die beiden, die frische Junge und die Hundertjährige, langsam weitergleiten sehe.
Die Zeit hält den Atem an. Das Weltall blickt jetzt herab.
 
Oma hat sich bald zurückgezogen. Die weißliche Wintersonne strahlt niedrig ins Zimmer. Ich meine, wir veränderten uns in diesem kühlen Licht. Der Maler hat inzwischen die Tochter fotografiert, er braucht für ein Bild im Atelier den Blick von oben auf erhobene Arme. Die sind aus der Phantasie schwer hinzukriegen.
Er erklärt uns noch, warum er die Meinung eines Berühmten teilt, daß alle Gespräche, die sich nicht auf Kunst beziehen, langweilig seien, und dann geht er. Mit meiner Tochter spreche ich über meine ungewöhnliche Einladung, denn noch wissen wir nicht, ob der Arbeitslose kommen wird.
 
Meine Tochter berichtet von einem vergleichbaren Fall: Ein pensionierter Staatsanwalt, der Vater eines Freundes, hat zu seiner Geburtstagsfeier geladen. Als Überraschungsgast sozusagen hat er einen ehemaligen Knacki, vielleicht betreut er ihn ein bißchen, eingeladen – aber da ist etwas dazwischen gekommen. Der Freund, also der Sohn des Staatsanwalts, hat es dem Vater ausgeredet. In Gegenwart eines Fremden könne man schließlich nicht unbeschwert feiern.
Der Sohn ist Börsenmakler. Diese Einzelheit veranlaßt mich zu einer Reihe von Überlegungen. Ich könnte auch Beispiele aus der Bibel hinzuziehen, sage ich, in denen die Komplexität des Themas deutlich würde. Aber vielleicht wissen wir nicht genug über diesen konkreten Fall.
 
Schon bald – die Hausherrin ist ja heute abwesend – wird die Erbsensuppe aufgetragen. Oma kommt hinzu. Als wir den ersten Teller geleert haben, erscheint - womit wir nicht unbedingt gerechnet hatten - tatsächlich der arbeitslose, allein lebende Nachbar.
Übrigens ist er in meinen Bäckerei-Erlebnissen schon öfter aufgetaucht, als Walker, als stummer Sonderling, als Einsamer auf Frauensuche. Man könnte von einer Entwicklung sprechen. Er setzt sich ohne Schüchternheit zu uns, berichtet von den unerhört hohen und unverständlich erhöhten Nebenkosten in seiner Zweiunddreißig-Quadratmeter-Wohnung und auf Nachfrage auch von seiner Familie.
 
Ein Bruder ist Chefarzt einer Fachklinik, der andere Bruder Unternehmer. Ob sie einander helfen? Ja, sagt er, er hat für beide beim Hausbau die Ausschachtung gemacht.
Ob sie auch etwas für ihn täten?
Da wüßte er im Augenblick nichts, sagt er verlegen lächelnd. Aber er bekäme ab dem nächsten Jahr wenigstens seine Rente.
Ob es eine ausreichende Rente sei?
Nicht ganz so viel, sagt er. Er war öfter arbeitslos, deswegen. Er weiß auch nicht warum.
 
 
 
© 2011 Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2012