Die Einladung
Zoutelande, im November
Liebe Freundin,
Du kannst Dir ja nicht vorstellen, welche Einöde wir hier haben, jetzt um diese Zeit. Ganz selten, daß mal ein Fahrrad vorbeikommt, lautlos, als wäre es ein Fisch. Wer auf sich hält von den Hiesigen, ist jetzt auf Mallorca oder den Kanaren. Die meisten Läden sind zu, der Fischladen, der Kosmetikladen, der Zeitungskiosk. Selbst Patteniers sind weg, die Nachbarn, die auf das Haus aufpassen, wenn wir nicht hier sind. Ich finde es wunderbar, diese Ruhe. Es ist die beste Zeit. Nach Herzenslust lesen, morgens laufen, die Möwen auffliegen sehen, wenn wir ihnen zu nahe kommen. Aber ich will mich nicht wiederholen, Du kennst unseren Tageslauf. Gerade sehe ich, wie Rick auf dem Wulkpad mit der Nachbarin von gegenüber redet. Mit mevrouw Gabrielse. Herrlich die beiden, wie sie da auf dem Weg stehen, sie gestikulierend, er geduldig zuhörend. Dabei versteht er vielleicht gerade mal ein Zehntel von dem, was sie sagt. Es amüsiert mich immer wieder, wenn ich die beiden zusammenstehen sehe. Kaum daß er sich am Wulkpad zu schaffen macht, die Hecke schneidet oder den Grasstreifen, kommt sie rüber, um mit ihm zu reden. Er scheint es zu schätzen. Manchmal dreht sie sich mitten im Gespräch um, geht auf ihr Gartentor zu, als betrachte sie es als Sünde, den Tag mit Schwätzen zu vertun. Dann fällt ihr noch etwas ein. Sie kehrt zurück auf den Weg und verkündet Rick die Erkenntnis, die ihr gerade gekommen ist, immer mit dem vollen Einsatz ihrer Arme und Hände.
Sie zieht auch schon einmal ein Augenlid herunter, schüttelt den Kopf, um zu betonen, ihr mache keiner so schnell etwas vor. Zu gern wüßte ich, was oder wen sie wohl damit meint. Aber aus Rick bekommt man ja kaum etwas heraus. Vielleicht, weil er nicht zugeben will, daß er sie mal wieder nicht verstanden hat. Dat leven is werken, niets als werken, sei eines der wiederkehrenden Themen, es beginne im Bett und ende im Bett. Keine große Erkenntnis, finde ich.
Aber Rick scheint Spaß an der Unterhaltung zu finden, wohl auch an ihrem Interesse. Jedes Mal, wenn wir nach längerer Abwesenheit mal wieder hier vorbeischauen, leite sie den ersten Schwatz auf dem Wulkpad mit den Worten ein: U was echter lang weg! Daß Männer sich immer gleich etwas darauf einbilden, wenn sie aus solchen harmlosen Bemerkungen herauszuhören glauben, sie würden vermißt!
Nun, wo ich einmal dabei bin, muß ich Dir auch den Anfang der Geschichte erzählen. Wir hatten das Haus gerade gekauft, verbrachten die ersten Tage hier, als wir bei den Gabrielses klingelten, den Nachbarn zur Rechten. Daar moet ik eerst mijn man vragen, hatte sie uns damals beschieden und uns an der Haustür verabschiedet. Es klang nicht unfreundlich, es war sogar ein gewisses Mitgefühl spürbar für unsere Unkenntnis der örtlichen Sitte.
Wir hatten ihr einen Blumenstrauß in die Hand gedrückt und sie zu einem Kaffee eingeladen in unserem makellosen Deutsch. Wir seien die neuen Nachbarn. Den Blumenstrauß hatte Frau Gabrielse entgegengenommen, uns aber nie ein Wörtchen mitgeteilt über das Ergebnis der Besprechung mit ihrem Mann. Unsere Einladung war ausgeschlagen, soviel hatten wir verstanden.
Wir waren die hemdsärmeligen Deutschen, die – kaum waren sie zugezogen – Kontakt zu den Nachbarn aufnehmen wollten. Die Nachbarn zur Linken waren kein Problem. Es waren Deutsche wie wir, die uns schon am ersten Tag zu einem Grillabend einluden. Aber die zur Rechten waren Seeländer. Und über die wußten wir nichts.
Ich fragte damals – mittlerweile ist das schon fast fünfzehn Jahre her – einen Essener Kollegen, der hier ganz in der Nähe eine Zweitwohnung besitzt und jedes Wochenende hier verbringt – seine Frau wohnt sogar ständig hier des seeländischen Klimas wegen, ob er mir das Verhalten der Nachbarn erklären könne. Soziologe wie ich, war der natürlich nicht um eine Antwort verlegen. Alles, was wir hätten falsch machen können, hätten wir tatsächlich falsch gemacht. Der echte Seeländer lasse niemanden in sein Haus außer den engsten Verwandten. Deshalb nehme er auch keine Einladung von Bekannten oder Nachbarn an. Denn das würde ihn ja zu einer Gegeneinladung verpflichten. Wahrscheinlich sei das, so der Kollege, noch ein Überbleibsel aus den Zeiten, als jeder zweite Seeländer zur See fuhr. Der hätte es nicht geschätzt, wenn die Ehefrau in seiner Abwesenheit einen Nachbarn ins Haus gelassen hätte oder – ebenso schlimm − zu einem Nachbarn ins Haus gegangen wäre.
Von dem Allzumenschlichen wolle er gar nicht sprechen, so noch immer der Kollege. Denn unsere Einladung sei doch vermutlich nicht ganz zweckfrei gewesen. Irgendwann hätten wir die Sprache bestimmt auf die gefürchteten Nordweststürme gebracht und wer uns dann wohl informieren würde, wenn in unserer Abwesenheit ein paar Ziegel vom Dach gefallen seien. Vielleicht hätten wir sogar angefangen, laut über etwaige Hilfe im Garten oder − noch schlimmer – über eine Putzhilfe nachzudenken, nicht ahnend, daß Seeländer keine Dienstleute sind, sondern freie Bürger eines freien Staates und das lange vor den Deutschen. Womöglich hätten unsere lieben niederländischen Nachbarn solche Gesprächsthemen befürchtet und die Einladung auch deswegen ignoriert. Der Kollege hatte da nicht ganz Unrecht, muß ich gestehen. Und so gesehen, war es von den Gabrielses eigentlich doch ganz vernünftig, uns diesen Korb zu geben.
Nun habe ich Dich bestimmt neugierig gemacht. Denn irgendetwas müsse doch passiert sein, daß sich Rick und die Gabrielse inzwischen so gut verstehen. Na, das klingt so, als hätten sie was miteinander. Ist aber nicht so. Sie reden miteinander, das ist alles. Aber jetzt will ich mir erst einmal einen Kaffee machen. Das ist ja das Schöne an diesen Computerbriefen, daß man beim Schreiben Kaffee trinken kann, ohne daß man Angst haben muß, das Papier zu bekleckern.
Im Grunde ist nichts passiert. Du weißt ja schon aus früheren Briefen, daß hier eigentlich nie etwas passiert. Es geschah ganz allmählich, fast unmerklich, und das über Jahre hin. Ich glaube, es hat damit zu tun, daß Rick, sobald wir mal wieder hier sind nach längerer Abwesenheit, im Garten verschwindet. Er jätet, schneidet Sträucher und Büsche, pflanzt um und das unermüdlich, bei fast jedem Wetter − und unter den Blicken der Nachbarn. Er hätte auch mit mir an den Strand gehen können, wenn das Wetter danach war. Stattdessen buddelte er im Garten. Vielleicht hat das die Gabrielse beeindruckt.
Jedenfalls kam Frau Gabrielse eines Tages – ihr Mann war da schon einige Jahre tot − herüber zu Rick, als der gerade im Vorgarten zugange war, und betrachtete eine Weile schweigend sein Werk, um schließlich festzustellen: Deze vrouwenmantel zou ik uitdoen, dat is duivels spul. Auf dem Friedhof ärgere sie sich jedes Mal über dieses Kraut. Das war der Beginn. Der nächste Gunstbeweis war, daß sie Rick um einige Ableger von der gelb blühenden Fetthenne bat, oder wie dieser Bodendecker heißt. Die setzte sie dann entlang der schmalen Rabatte an der Giebelseite ihres Hauses. So kamen sich die beiden immer näher.
Wenn Du meinst, ich sei eifersüchtig, so irrst Du Dich. Wie sollte ich eifersüchtig sein auf eine Frau hoch in den Siebzigern, deren Nase sich mit den Jahren immer mehr dem Kinn nähert? Ein Eulengesicht! Nein, nein, ich erwähne die Geschichte nur, weil es sonst nichts zu berichten gibt. Das ist ja gerade das Erholsame hier, daß nichts passiert, nichts wirklich Berichtenswertes.
Der Brief ist etwas lang geraten, ich weiß. Aber Deine sind auch nicht immer die kürzesten. Und wenn ich mich einmal dran begebe, Dir zu schreiben, was selten genug vorkommt, so fällt es mir schwer, wieder aufzuhören.
Mit allerliebsten Wünschen herzlich,
Deine Nora
© Wolf Christian von Wedel Parlow - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2012
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