Der Eingriff beim Hengst

von Karl Otto Mühl
Der Eingriff beim Hengst
 
Heute gab es eine richtige Frühstücksorgie in der Bäckerei. Erst traf ich nur auf den Bildhauer, der blaß und grippekrank, aber sehr lebendig war. Dann stellte sich wie auf Vereinbarung das gesamte Stammpersonal ein: der achtfache uneheliche Vater und Fernfahrer, die Schizophrene, der Analphabet, der hagestolze Textilingenieur, der in Portugal insolvent gewordene Hotelbesitzer, der laute, gesellige Gärtnermeister. Später kamen noch ein BoFrost-Fahrer und eine hermaphroditische Auszubildende mit Kurzhaarschnitt hinzu.
Es ergab sich ein rauschhaftes Rundgespräch über – ja, über was? Ach ja, über die vielfach unterschätzten Kenntnisse von Fachleuten und Meistern, die einem Studium ebenbürtig seien. Über die oft in der Kindheit wurzelnden Beziehungsstrukturen in Ehen. Über die ständigen Risiken (Haftung, Vorschriften, Kosten) im Baugewerbe. Über einen Klick, den der Bildhauer, auf einem Gerüst als Hilfsarbeiter schaffend, über sich hörte. Und eine Sekunde später sackte der Kollege neben ihm zusammen, getroffen von einem herunterfallenden Werkzeug. Über Baukräne, die sich im Sturm zur Seite neigen und einknicken.
 
Vor dem Eingang zur Bäckerei haben sich zwei Raucher versammelt. Sie stehen im grauen Morgen, stecken zwischen den einzelnen Zügen die Hände zum Aufwärmen in die Taschen. Wir haben ja schon Dezember.
Die Glastüre ist mit Plakaten und Ankündigungen bedeckt. Darum habe ich nicht gesehen, daß ein Schriftstellerfreund, der auch zum Stammpersonal gehört, draußen zwischen den Rauchern stand. Jetzt ist er unbemerkt eingetreten.
Der Bildhauer berichtet ihm, daß er täglich, schon nach dem Aufstehen beginnend, an den Tod denken muß. Der Tod sei nicht zumutbar, sagt er. Seine Cousine habe den Becher bei Dignitas in der Schweiz geleert. Sie hatte ihren Weg gewählt, um dem Sterben zu entgehen.
Ich erwähne, daß mir unser Psychologe erzählt hat, er übe den Tod täglich ein wenig mehr ein. Eine Katastrophe sei er nicht, ewig leben wolle man auch nicht. Wahrscheinlich lerne man dabei, an nichts anzuhaften, wie die Buddhisten sagen.
 
Ich denke an Gabi. Gestern telefonierte ich mit ihr. Ihr Mann, den ich eigentlich sprechen wollte, war nicht da. Selten hat mich etwas so zufrieden gemacht wie das, was sie sagte: Sie sei Siebenundsiebzig. Wie es ihr gehe? Na ja … Aber so lange würde es ja für uns alle nicht mehr dauern. Es sei schön, denken zu dürfen, daß wir einschlafen werden.
Ich habe ihr zugestimmt.
 
Der Schriftsteller berichtet, er habe gerade gelesen, daß man den Hengsten immer nur einen Hoden lasse, den anderen aber amputiere. Manche am Tisch wollen wissen, wozu das Ganze überhaupt diene, manche finden es rücksichtsvoll, daß man ihnen wenigstens einen lasse. Die glattgesichtige, hermaphroditische Azubi mit Kurzhaarschnitt guckt verständnislos.
Der Bauer Unterrieser ist inzwischen hinzugekommen und hat bei der Hengst-Diskussion zugehört. Wir erfahren von ihm, daß wir alle keine Ahnung haben. Der Schriftsteller habe einen „Klopfhengst“ gemeint; und bei dem Phänomen mit den Fortpflanzungsorganen handele es sich schlicht um einen Geburtsfehler, der heutzutage operiert werde. Beim Kastrieren finde man oft den zweiten Hoden nicht, und darum bleibe das Tier zeugungsfähig.
So unser Bauer. Ich muß das Ganze im Internet überprüfen. Wie der Landwirt in diesem Zusammenhang auf seine Frau zu sprechen kommt, weiß ich nicht mehr. Er beklagt nämlich, daß er nur selten faul in der Sonne sitzen könne. Dazu kommt er überhaupt nicht. Immer hat sie etwas für ihn zu tun. Und, wenn ihr einmal gar nichts einfällt, dann schleppt sie ihn zu irgendeinem Besuch in der Umgebung.
Der Bildhauer nickt schwermütig dazu. Gerade Faulheit sei manchmal wichtig, sagt er, das Unbewußte arbeite dann wie wild, und das brauche er. Aber auch ihn lasse man nicht immer. So sei das Leben. Wo einer den Kopf hebe, fehle selten einer, der darauf hauen wolle.
 
Ich verabschiede mich mit diesen neuen Erkenntnissen, entschuldige mich mit dringenden Kopier-Arbeiten, stehe plötzlich in der stillen, grauen Welt der Siedlung. Während ich mich prüfe, ob ich heute zufrieden bin oder nicht, denke ich zugleich, daß ich diese kindischen Nachfragen ebenso gut lassen könnte.
Jetzt fangen auch die erwachten Siedlungsbewohner langsam an, vorbeizuparadieren: meistens alte, verwitterte Gesichter, Krumme, Schiefe, Schlurfende; alte Frauen mit baumelnder Einkaufstasche am Rollator, Mann mit Blindenstock.
 
Hinter den nahen Hängen liegt das Krankenhaus, die Festung der Krankheit. Eine alte Freundin wird zu dieser Stunde operiert, ein Eingriff am Schädel. Sie konnte kaum laufen, aber, als ihr gestern das Krankenzimmer gezeigt wurde, in das sie einziehen sollte, empörte sie sich über dessen Kleinheit, und wütend strampelte die kleine Frau mit ihrem Rollator in Richtung Schwesternzimmer. Plötzlich konnte sie besser laufen. Die Lebenskraft bleibt unberechenbar.
 
Hier im Nebeldunst schweigt für mich auch die Trauer. Heilige Nüchternheit regiert die Welt.
 


© 2011 Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2012