Zeit für eine Tasse Kaffee
Schon elf Uhr, höchste Zeit, daß ich mich aufmachte zu der Besuchstour. Die Lektüre der WZ konnte warten. Den Oradour-Artikel wollte ich unbedingt noch genau lesen. Offenbar hatte man wieder zwei mutmaßliche Täter entdeckt. Erstaunlich diese Hartnäckigkeit der Staatsanwaltschaft, nach über fünfundsechzig Jahren spürte sie immer noch Beteiligte auf.
Schon wenige Sekunden, nachdem ich bei Willachs geschellt hatte, öffnete man mir. Das war nicht immer so, wenn ich im Auftrag der evangelischen Gemeinde bei gerade siebzig oder älter gewordenen Gemeindemitgliedern klingelte. Es kam vor, daß man mich abwies, weil man gerade aus der Dusche komme. Da half auch nicht, daß ich in die Gegensprechanlage stammelte, ich käme von der evangelischen Gemeinde. Vielleicht schreckte es sogar ab.
Gerd Willach stand in der offenen Wohnungstür, als ich im vierten Stock angelangt war. Ich sei aber noch gut dabei, so schnell wie ich die Treppe hochgekommen sei, meinte er anerkennend, bevor ich mein Sprüchlein loswerden konnte. Nun, ich sei ja auch noch gut zehn Jahre jünger als er, entschuldigte ich meine Kondition. Er sah frisch aus mit seinen fünfundachtzig Jahren, frischer als vor fünf Jahren, als ich ihm das erste Mal die Glückwünsche der Gemeinde überbracht hatte. Ich sagte ihm das und wünschte ihm weiterhin so gute Gesundheit.
Er bat mich hinein und forderte mich auf abzulegen, ich hätte doch bestimmt Zeit für eine Tasse Kaffee. Gern, sagte ich und wunderte mich über soviel Zuvorkommenheit. Vor fünf Jahren war der Empfang eher frostig gewesen. Ich hatte ihm gerade mal die Hand drücken und alles Gute wünschen können, und schon zog ich die Wohnungstür wieder hinter mir zu, weil man mich nicht zum Bleiben aufgefordert hatte.
Jetzt gesellte sich auch seine Frau zu uns in das Wohnzimmer, in das mich ihr Mann gebeten hatte. Sie brachte den Kaffee. In ihrem eng anliegenden Hauskleid aus weißem Frotteestoff mit dem Reißverschluß vom Kinn bis zu den Knien wirkte sie wie eine Fünfzigjährige, dabei war sie bestimmt auch schon bald Mitte achtzig. Sie strahlte Lebenslust aus.
Die WZ des Tages lag sauber gefaltet auf dem Couchtisch. Ob sie den Oradour-Artikel schon gelesen hatten, fragte ich mich im Stillen, und mich nur deswegen hineingebeten hatten, weil sie testen wollten, ob ich auch sie verdächtigte, verscheuchte diesen absurden Gedanken aber sofort.
Laut sagte ich, ich hoffe, sie hätten den Geburtstag gestern im Kreis der Familie gebührend gefeiert, denn ich war bewußt einen Tag nach dem Geburtstag gekommen, weil ich ungern während einer Familienfeier störte. Ja, es sei nett gewesen gestern in dem Lokal gegenüber der Schwimmoper. Sie hätten erstmals außerhalb der Wohnung gefeiert. Hier sei es einfach zu eng.
Da hätten sie ja wohl eine große Familie und vermutlich Kinder und Enkel, entgegnete ich. Nein, sagte sie schroff, sie hätten keine Kinder. Kinder machten nur Ärger. Ihr eher weiches, rundliches Gesicht hatte einen unerbittlichen Ausdruck angenommen. Das müsse ja nicht immer so sein, versuchte ich abzuschwächen. Doch, doch, was sie von anderen hörten, sei immer nur Ärger mit dem Nachwuchs. Sie seien froh, daß sie auf Kinder verzichtet hätten.
Dafür genössen sie es vielleicht umso mehr mit den Neffen und Großneffen, sagte ich, unnötig weiter auf dem Thema herumreitend. Nein, sie hätten keine Verwandten, sie seien allein, sagte sie, jetzt schon in einem Ton, der mir weitere Nachfragen verbat. Ich hütete mich davor, sie lauthals zu bedauern. Wer weiß, vielleicht hatten sie genau das gesucht, diese völlige Isolation, diesen Verzicht auf jeglichen familiären Rückhalt. Und schon schlich sich wieder der Fall Oradour in meine Gedanken, und die Suche der Täter nach einem Umfeld, in dem man sie nicht behelligen würde.
Nein, sie hätten wie immer mit Freunden zusammengesessen, ersparte er mir weiteres Nachforschen. Mit Freunden sei es ja immer noch am schönsten, da würde nicht gestichelt, würden keine alten Vorwürfe ausgegraben wie unter Verwandten, gab ich ihm Sympathie erheischend Recht – und malte mir im Stillen ein Kameradschaftstreffen ehemaliger SS-Leute aus.
Wie es denn mit den Nachbarn sei? Die Nachbarn ersetzten doch bestimmt die fehlenden Kontakte zur Verwandtschaft, folgte ich weiter der Spur meines Verdachts, nun schon langsam hysterisch. Nein, zu den Nachbarn gebe es keine Kontakte, erwiderte sie, wieder so schroff wie vorhin auf meine Frage nach Kindern und Enkeln. Natürlich kennten sie die Leute im Haus. Da zöge einer aus, ein anderer zöge ein. Aber näher kennte man sich nicht. Und seit wann sie hier wohnten, faßte ich nach. Seit sechzig Jahren, sagte sie. Es sei ihre erste Wohnung hier in der Stadt − und ihre letzte. Sie sah ihren Mann an, der ihr mit einem Kopfnicken zustimmte.
Und wie sie es mit der Kirche hielten, das Gemeindehaus sei doch ganz nah, forschte ich weiter und fügte lachend hinzu, dies sei nun aber wirklich kein Verhör. Ein befreiendes Lachen erzielte ich mit der Bemerkung nicht, allenfalls ein kaum hörbares Glucksen. In die Kirche gingen sie nicht, das interessiere sie nicht, sagte sie. Aber sie wüßten doch bestimmt von den Seniorentreffs, die dort jeden Mittwochnachmittag stattfänden, das sei doch vielleicht etwas für sie, warb ich um ihre Rückkehr in die Gemeinde. Vielleicht, sagte sie unbestimmt, um mich von weiteren Missionierungsversuchen abzuhalten.
Den Kaffee hatte ich ausgetrunken. Es war alles gesagt. Ich bedankte mich, wünschte noch einmal Gesundheit und Zufriedenheit für das neue Lebensjahr und verabschiedete mich. Wieder zuhause, nahm ich mir noch einmal den Oradour-Artikel vor. Es war von zwei Hausdurchsuchungen die Rede, bei einem Fünf- und einem Sechsundachtzigjährigen. Belastendes Material war nicht gefunden worden. Die Ermittlungen würden fortgesetzt.
© 2011 Wolf Christian von Wedel Parlow – Erstveröffentlichung in den Musenblättern
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