Wenn Sekunden zu Stunden werden oder Das 2. Gesetz der Thermodynamik

Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“ am Dortmunder Schauspielhaus

von Peter Bilsing
Wenn Sekunden zu Stunden werden
oder
 


Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“
am Dortmunder Schauspielhaus
 
Premiere am 14.1.2012
 
 
Inszenierung: Marcus Lobbes - Bühne und Kostüme: Christoph Ernst - Dramaturgie: Michael Eickhoff - Licht: Sibylle Stuck - Soufflage: Tilla Wienand
Besetzung: Véronique Houillé: Eva Verena Müller - Michel Houillé: Axel Holst - Annette Reille: Friederike Tiefenbacher - Alain Reille: Ekkehard Freye
 
Es gibt in meinem bisherigen langen Kritikerleben nur zwei Produktionen, die ich frisch und fromm von der Leber weg direkt als "gequirlte Scheiße" bewerten würde; das eine war der Ratten-Lohengrin aus den Bayreuther Versuchslaboren von Hans Neuenfels (2010/11), und das zweite ist dieses

Tiefenbacher, Freye, Holst, Müller (v.l.) - Foto: Theater Dortmund
vorgestern in Dortmund  unter der Regie von Marcus Lobbes
aufgeführte Machwerk nach dem berühmten und wirklich tollen Theaterstück (mittlerweile auch sehr erfolgreich verfilmt!) "Der Gott des Gemetzels" von Yasmina Reza.
Es sind mal gerade erst drei Sätze aufs schlimmste affektiert und künstlich (künstlerisch?) verfremdet gesprochen, da möchte der Kritiker schon panikartig das Schauspielhaus verlassen. Kennen Sie solche Situationen? Sie wissen eines genau: das ist "Scheiße hoch 3" und wird garantiert nicht besser; sie müssen aber noch 89 Minuten sitzen bleiben, weil man halt gut erzogen ist und sich nicht während der laufenden Vorstellung störend mitten durch die anderen Zuschauer quetschen möchte.
 
Puh! Jedes gesprochene Wort auf der Bühne wird zum Martyrium, welches sich in den unendlichen Sekunden des zäh springenden Zeigers der Uhr spiegelt. In der Tat: ein Gemetzel. Dabei weiß ich durch den Musenblätter-Redakteur zumindest von Friederike Tiefenbacher, was für eine göttliche Schauspielerin sie wohl ist. Aber auch sie hat keine Chance.  Der Versuch zu entfliehen, wenigstens virtuell, indem ich mich in den Sekundenschlaf flüchte, was sonst in jeder Oper gelingt, klappt diesmal nicht, denn mein Hals ist zornesgeschwollen und mein wütend forcierter Puls tendiert gegen 180 - Blutdruck 200. Ich bin in der Stimmung für eine ordentliche Schlägerei. Von Schlafen keine Spur; ich kann mich auch nicht in meinen zumindest körperlich doch vorhandenen Panzer zurückziehen. Keine nahegelegene Notausgangstüre ist in Sicht! Zwei Stunden sind scheints vergangen, doch meine exakt funktionieren Funkarmbanduhr zeigt erst 13 Minuten! Zu diesem Zeitpunkt gehe ich fatalistisch davon aus, daß ich diese Schmiere nicht überleben werde...
 

Müller, Holst, Freye, Holst (v.l.) - Foto: Theater Dortmund
Welcher Teufel hat den Regisseur
geritten, dessen vor fast genau vor zwei Jahren mit großem Erfolg in Wuppertal aufgeführter "König Lear" allerhöchstes Lob auch der versammelten Kritik bekam, diese landauf, landab vielgespielte und international gefeierte wunderbare Tragikomödie so zu verhunzen, ein derartiges Affentheater mit grimassierenden Darstellern zu inszenieren? Was sollen die dauernden homoerotischen Anspielungen?
Natürlich dachte das Regieteam beim Titel "Gott des Gemetzels" an Antike. Die Griechen hatten bekanntlich viele Götter, denn für alle Phänomene, die sie sich nicht erklären konnten, erfanden sie neue. Einen richtigen "Gott des Gemetzels" gab es vielleicht bei den Inkas - allerdings noch unentdeckt. Wegen des Titels und weil halt keine Zeitsprünge im Stück sind - wir erleben alles in Echtzeit - verwendet Regisseur Marcus Lobbes Symbole griechischer Tragödien: Ein nachlässig umgeworfenes Bett-Tuch ziert als eine Art Toga alle Mitwirkenden. Da bei der griechischen-Tragödie alle Rollen von Männern gespielt wurden, müssen auch hier die Männer Frauenkleidung tragen und sich auf Stöckelschuhen über die Treppen quälen, was dazu führt, daß sie natürlich öfter stolpern und sich hinlegen. Hahahaha... Das ist wirklich urkomisch und das Premierenpublikum schlägt sich unentwegt auf die Schenkel. Man trifft den Publikumsgeschmack. Manche, vor allem Besucher, die das Stück kennen und evtl. den superben Film gesehen haben, schauen allerdings so finster drein wie der Kritiker.
Na klar, die Schuhe sind eine "hochintelligente" Reminiszenz an die klassischen Kothurnen: Männer tragen Stöckelschuhe, Frauen Schuhe mit Tableau-Sohlen; beides wirkt durch Bewegungshemmung wirklich (?) saukomisch - zumindest für einen nicht gerade kleinen Teil der Zuschauer. Jerry Lewis läßt grüßen.
 
Ich versinke immer tiefer in meinem Theatersessel - was, zugegebener Maßen, bei einer Größe von gut zwei Metern schwer fällt. Gerade versucht eine Schauspielerin sich an einer der vielen von der hohen Decke herunterhängenden Klopapierrollen zu erhängen - jodelnde Begeisterung im Publikum! Die Akteure tun mittlerweile so, als ob sie sich besaufen. Auch diese Sequenzen werden natürlich künstlerisch intellektuell verklärt und verfremdet, indem man sich gegenseitig mit großen Stücken schwarzen Textilbandes verklebt. "Hier noch einen Drink!" – klatsch, ein Stück Klebeband auf die Backe!
Ich schließe die Augen. Aber der seltsam verfremdend deklamierte Text (Man sagt z.B. nicht "unser Junge" sondern "Uuuuuuunseeeeer Juhnggggge!"), die Schauspieler müssen mal schnell mal langsam sprechen, zerhacken den Text, brüllen und grunzen sinnlos, rollen mit den Augen und gehen sich an die Wäsche. Als ich zwischenzeitlich mal wieder die Augen öffne, geht ein Darsteller nicht nur sich, sondern auch dem drei Meter großen Teddybären ans Gemächt. Wo ist der Sinn?

Friedrike Tiefenbacher (unten) Eva Verena Müller (oben) - Foto: Theater Dortmund

 
Nur noch 60 Minuten signalisiert meine Uhr nach gefühlten und schmerzlich erduldeten zehn Stunden baren Unfugs.
 
"Gallia est omnis divisa in partes tres, quarum unam incolunt Belgae, aliam Aquitani..." ich erinnere mich nun mit Freuden an die Lateinstunden vor 50 Jahren und erkenne jetzt endlich den Sinn dieser Auswendiglernerei. Welch wunderbare Ablenkung! Ich versinke mental in Caesar...
...überlebe dieses Schmierentheater. Unmerklich ist es 21 Uhr geworden und das Publikum jubelt plötzlich. Ein paar wenige buhen. Jetzt nur kein Dacapo! Ach Entschuldigung, wir sind ja im Schauspiel.
 
Als ich dann bei mich vom Tacho ablenkendem brodelndem Zorn (wieviel sind eigentlich zwei Stunden gestohlene Lebenszeit wert?) auf dem Nachhauseweg auf dem Ruhrschnellweg Richtung Düsseldorf auch noch geblitzt werde, ist das Maß voll… Gott vergibt - Kritiker Big P. nie! Wir sehen uns nochmal, Freundchen! Das Dortmunder Theater sieht mich allerdings nie mehr; nicht in diesem Leben! Na vielleicht noch einmal in der Oper...
Für diese Aufführung vergeben wir aus tiefster Überzeugung unsere Zitrone, den Musenblattschuß.
 
Redaktion: Frank Becker