Die Brache (1)

Tagebuchaufzeichnungen

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Die Brache (1)
 
Hier im Tagebuch halte ich kurz einen ereignislosen Vormittag fest. Ich bin allein im Stehcafé am Dreieckstisch und schlürfe meinen Kaffee. Die Hauptbäckerin starrt gedankenverloren zum Schaufenster. Ich folge ihrem Blick und sehe eine hakennasige Hexe, die sie hergerichtet hat. Halloween naht.
 
Ein Freund, der fast jeden Morgen dazu kommt, schlägt vor, daß er und ich uns nach Halloween abwechselnd ins Schaufenster stellen. Die Hauptbäckerin verspricht uns für diesen Fall je einen Gratis-Kaffee.
 
Draußen überzieht das Sonnenlicht die Welt mir rötlichem Gold. Die Obstbäume im Umkreis strecken graziös ihre Äste aus. Es ist sehr früher Morgen. Jetzt fahren schon mehr Busse als vorhin kreuz und quer durch die Straßen. Rudel von Schulkindern kreuzen meinen Weg zum Auto. Sie sind mir fremd, wie aus einem anderen Erdteil.
 
Öfter, und heute wieder einmal, begegnen mir junge Leute, auch nette Mädchen darunter, die mich freundlich grüßen. Der Grund dafür ist klar: Sie grüßen einen alten Mann. Vielleicht benutzen sie die Gelegenheit, jemand zu grüßen, von dem sie meinen, daß er ihnen nicht lästig oder gefährlich werden kann. Ich schreibe dies einen Tag später auf und weiß dabei, daß ich gestern Vormittag noch mehr erlebt, gefühlt und gedacht habe. Ärgerlich, daß mir nicht mehr alles einfällt.
 
Gedanken zu Tod, Altern und Krankheit haben sicher dazugehört. Natürlich mag ich das alles nicht besonders; so geht es ja den meisten. Mich erinnert besonders viel daran, denn die Freunde aus meiner Generation sind fast alle sehr krank. Seltsamerweise sind immer genug um mich herum gewesen, die sterben konnten und es auch taten. „Täglich an den Tod denken!“ mahnt mein Freund Schapur. „Der Tod tut nicht weh. Es ist so, als ginge es weiter.“
 
„Warum darfst du nicht krank werden? Oder sterben? Aber du magst es nicht?“ höre ich meinen alten Freund Hans aus Willich sagen, der vor zwanzig Jahren siebzigjährig starb. „Warum nicht? Bist du sicher, daß du es nicht ertragen willst? Ich habe da so meinen Verdacht.“
Sein Verdacht war, daß ich weniger das Leiden fürchtete, vielleicht auch nicht einmal den Verlust so sehr, nein –
„Es könnte dein Vollkommenheitsbedürfnis sein“, hatte er gesagt. „Alles soll gut, richtig und perfekt sein, und du, du bist dann die Krone von allem. Streite das nicht gleich ab. Davon will fast keiner abstürzen außer den Heiligen. Ganz oben sein und alles in Ordnung finden ist am Ende das Gleiche. Denk lieber mal darüber nach.“
 
Er starb, während seine Frau gerade ein Brötchen für ihn ins obere Schlafzimmer brachte, wo er mit seiner Erkältung im Bett lag, ein zartgliedriger Mann mit klugen Augen hinter der Hornbrille.




Weitere Notizen an den folgenden Sonntagen
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