Die Brache (4)

Tagebuchaufzeichnungen

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Die Brache (4)

Auch ich werde mir eine Vorfahrenfamilie beschafften. Sie soll aus einem ruhigen, gelassenen, bestimmten, alten Mann, einem drahtigen Trainer mit sanfter Stimme und aus einer schönen, aber älteren Frau bestehen. Wenn ich eine schwierige Frage habe, werde ich zu dieser Gruppe gehen, die freundlich am Waldrand wartet, und ihnen mein Anliegen vortragen. Ich sehe meinen Vater die Hand heben: „Hör auf damit. Du bist ein richtiger Klugscheißer.“
 
Bei scheinbar unlösbaren Fragen werde ich ein Stück weiter zu meiner Mutter gehen. Sie scheint den Tod nicht gefürchtet zu haben, sie ist lächelnd gestorben.
 
Von seiner Mutter sagt Roland, der noch im Rollstuhl sitzt, sie sei zwar vor dem Vater gestorben, aber sie habe da oben im Himmel dafür gesorgt, daß beide, er und sein Vater, im Hause der Mutter seines ersten unehelichen Kindes Wohnungen bekamen, und jetzt seien sie alle glücklich beisammen und könnten aufeinander aufpassen. Daß er im Rollstuhl sitzt und immer wieder einnickt, scheint ihn nicht zu stören.
Niemand kann beweisen, daß es nicht stimmt, was er glaubt. Ich muß einmal nachsehen, ob ich in der Wohnzimmerecke einen Platz freimachen kann. Schöner Gedanke: Ich schließe die Haustüre auf und weiß, da sitzt jemand in der Ecke, der mich in einer Mischung aus unendlicher Bescheidenheit und Schalk anschaut. So sah sie immer aus, die Mutter, wenn sie uns eine Freude gemacht hatte.
            
Aber jetzt kommen sie wieder, diese Erinnerungen - alle diese Augenblicke, und es war oft schön, hat die Zeit oder die Nicht-Zeit verschluckt. Nirgendwo finde ich die Augenblicke in Algier, in Moskau, in Sarajewo wieder, nirgendwo hocke ich mit zweitausend anderen Gefangenen in der Libyschen Wüste, bin aber in Sicherheit und warte auf den Abtransport. Nie mehr zieht unsere Tochter, langsam, Schritt für Schritt, mit den anderen Abiturienten unter den Klängen von „We are the Champions“ in die Aula ihrer Schule ein, feierlich das Gesicht.
Und unsere Herzen weinten vor Rührung.
Nein. Nicht einmal wird einer behaupten, es habe mich überhaupt nicht gegeben, denn auch ihn gibt es nicht mehr.
 
Wahnsinn. Alles ist dann weg. Aber schön war es doch heute.



© Karl Otto Mühl 2011 - Redaktion: Frank Becker