Die Frau mit der roten Tasche Er beobachtete sie nun schon eine ganze Weile. Mal betrachtete sie das Bild von ganz Nahem, mal ging sie eine paar Schritte zurück, um es aus größerer Entfernung auf sich wirken zu lassen. Immer wieder schien sie etwas in dem geheimnisvollen Gemälde zu finden, das ihr Rätsel aufgab. Was lag nun wirklich auf der Waage, die von der zierlichen Hand gehalten wurde? Waren es Goldmünzen? Auf der einen Waagschale eine Münze, deren Goldgehalt geprüft werden sollte, auf der anderen eine, die als Maß Verwendung fand? Man sollte es meinen. Laut Katalog hieß das Bild „Eine Frau, die Gold wägt“ oder kurz „Die Goldwägerin“. Das stand auch auf dem Schild, das neben dem Bild an der Wand befestigt war, samt dem vermuteten Jahr der Entstehung, 1664, und den präzisen Größenangaben. Nur 42 auf 38 Zentimeter maß das Bild. Wie hätte Jan Vermeer da bei allem ihm zu Gebote stehenden Können die auf den Waagschalen liegenden Gegenstände so präzise darstellen können, daß sie unzweifelhaft identifiziert werden konnten?
Vielleicht hat der Künstler das bewusst im Unklaren gelassen, vermutete er aus seiner Ecke heraus, von wo aus er den ganzen Saal im Blick hatte. Ungefähr alle zehn Minuten sollte er seinen Standort verlassen und sich in den daneben liegenden Ausstellungsraum begeben – im Wechsel mit der dort die Aufsicht führenden Kollegin, so lautete die Vorschrift. Er verharrte schon wesentlich länger als die vorgeschriebenen zehn Minuten an seinem Platz. Gebannt beobachtete er die Frau mit der roten Tasche, deren Größe, wie er stirnrunzelnd feststellte, das zulässige Maß deutlich überschritt. Die Damen am Einlaß wurden offensichtlich nachlässig. Oder die Frau hatte ihnen einen solchen Eindruck gemacht, daß sie es nicht wagten, ihr die Mitnahme der Tasche zu verweigern. Nun gut, nach seinem Dafürhalten zählte die Frau nicht zu jenem Kreis von Personen, denen er einen Diebstahl zutraute. Solchen Leuten stand die Absicht klar ins Gesicht geschrieben.
Aber nun mußte er doch seinen Platz wechseln. Die pummelige Kollegin, mit der er manchmal in die Oper ging, hatte ihn an die Schulter getippt und verständnisinnig gelächelt. Sie hatte wohl gesehen, was seinen Blick derart fesselte. Zum Glück konnte er auch aus dem Nebenraum hin und wieder einen Blick zurück in den anderen Raum werfen. Es beruhigte ihn, daß sich die Frau mit der roten Tasche immer noch dort aufhielt. Sie hatte sich inzwischen auf der Bank gegenüber der „Frau mit der Waage“ niedergelassen, offensichtlich noch immer in die Betrachtung des Bildes vertieft. Das Bild hatte es ja in der Tat in sich. Was bedeuteten etwa die Perlenketten, die teils aus einer geöffneten Schatulle hingen, teils auf dem Tisch lagen, auf den sich die Frau mit der Linken stützte? Auch goldene Armbänder lagen dort, als hätte sich die unverkennbar hochschwangere Frau den Schmuck zunächst angelegt, dann aber doch beschlossen, all diese Zeichen irdischen Reichtums wieder abzulegen. Als sei ihr plötzlich bewußt geworden, irdischer Reichtum passe nicht zu ihrem gegenwärtigen Zustand. Das Haar hat sie mit einem weißen Tuch bedeckt. Auch das vielleicht eine Andeutung, daß sie sich jetzt keine Halskette anlegen will. Denn das Tuch hätte das Anlegen einer Halskette behindert. Schmucklos will sie also bleiben in diesem Zustand, wie soll man sagen, der Seligkeit, der Erwartung? Und nur eines tun: wägen. Vielleicht nicht so sehr einen Gegenstand, als die Waage ins Gleichgewicht bringen. Denn Vermeer hätte nur ein größeres Format zu wählen brauchen, wenn es ihm darum zu tun gewesen wäre, daß auf den Waagschalen Goldmünzen, schieres Gold oder Perlen sichtbar werden.
Die Sicherheit, mit der man meinte, hier ginge es um Gold, kam ihm ohnehin fragwürdig vor. Er hatte den Katalog gelesen, wie er das vor jeder Ausstellung tat. Er wollte Bescheid wissen, auch über die Hintergründe der zur Ausstellung kommenden Sammlungen. Einfach nur Präsenz zu zeigen, um die Besucher davon abzuhalten, zu nah an die Exponate heranzutreten, sie eventuell gar zu berühren oder mit einer ungebührlich großen Tasche zu streifen, hätte ihm nicht genügt. Er gab auch schon mal einen Fingerzeig zum Verständnis dieses oder jenes Details, obwohl die Leitung des Hauses das vielleicht nicht gerne sah. Denn dafür gab es die eigens angestellten und gesondert zu buchenden Führer, meist recht hochnäsige junge Damen, die ihn wie Luft behandelten. Aber es gab Ausnahmen. Ja, schon dieser Ausnahmen wegen war er immer noch dankbar für den Tip, sich nach dem Verlust seiner Stelle als Software-Entwickler bei SAP um dieses Wächteramt zu bewerben. Diese hübschen jungen Dinger, die ihm zulächelten, wenn er ihnen ein Auge kniff.
Im Katalog also wurde nicht in Frage gestellt, daß es Gold war, was hier gewogen wurde. „Eine Frau, die Gold wägt“ war der Titel, dem man dem Bild gegeben hatte. Niemand schien das in Zweifel zu ziehen. Dabei war doch nur eines klar, nämlich daß die dargestellte Frau eine Goldwaage hielt.
Während er so seinen Gedanken nachhing, waren die zehn Minuten rasch verflogen. Es drängte ihn zurück in den Raum, wo er die Frau mit der roten Tasche noch immer auf der Bank sitzend fand. Sie saß dort mit geschlossenen Augen, bequem zurückgelehnt, die geschlossenen Beine leicht nach links gestellt. Tatsächlich, sie war eingeschlafen. Daß ältere Besucher hier schon mal ein Nickerchen hielten, kam nicht selten vor. Untersagt war es nicht. Warum auch? Museumsbesuche ermüden, das hatte jeder schon mal an sich selbst erlebt.
Einschreiten mußte er also nicht. Im Gegenteil, jetzt konnte er die Frau betrachten, ohne daß sie es bemerkte. Mitte sechzig, schätzte er, nur wenig jünger als er, könnte sie sein. Graues, welliges, schwer zu bändigendes Haar, knapp die Ohren bedeckend und über der Stirn zu einem Pony geschnitten. Das Gesicht weißlich gepudert. Dazu ein breit gerändertes Brillengestell in demselben Rot wie der dünne Schal und, ja, die Tasche, die ihm als erstes aufgefallen war. Umso zurückhaltender war der taubengraue Hosenanzug aus robustem Gabardine, wetterfest, würde er sagen. Die kurze Jacke eng anliegend und über der Hüfte leicht ausgestellt. Eine sportliche, fast jugendliche Erscheinung. So auch ihre Bewegung vorhin, als sie vor dem Bild vor- und zurücktrat.
Die rote Tasche behielt er im Auge. Sie drohte ihrer Rechten langsam zu entgleiten. Die Finger waren schon halb geöffnet, und die Tasche hing nur noch wenige Zentimeter über dem Fußboden. Ein lang gestrecktes Rechteck im Querformat, breit genug, um eine zusammengerollte, knapp vierzig Zentimeter breite Leinwand darin verschwinden zu lassen, sagte ihm der antrainierte Instinkt. Aber Verdachtsmomente hatte er bei dieser Dame ja längst von sich gewiesen. Nein, die Tasche könnte verlockendes Diebesgut werden, sobald sie ganz zu Boden geglitten wäre, allein darum war es ihm zu tun. Er würde die Frau also wecken müssen, bevor die Gefahr entstand. Aber sie jetzt zu wecken, wo sie dermaßen fest schlief, brachte er nicht über sich. Ihre Augäpfel bewegten sich, vielleicht träumte sie.
Nur wenige Minuten waren vergangen − oder waren es nur Sekunden? −, als die Tasche zu Boden fiel, die beiden Henkel griffbereit für den nächstbesten Dieb. Er ging zu ihr hin und faßte sie leicht am Ellbogen. Sie kam sofort zu sich.
„Oh, ich bin wohl eingeschlafen.“ Sie errötete leicht. „Ich glaube, ich brauche jetzt einen Kaffee. Ich bin noch ganz benommen. Helfen Sie mir auf?“ Eine tiefe, seidige Stimme. Ein Celloton.
Er reichte ihr die Tasche und sah verstohlen auf seine Uhr. „Das trifft sich gut. Ich werde gerade abgelöst. Die Kollegin ist, wie ich sehe, schon unterwegs. Darf ich Sie begleiten?“
„Aber gern. Sie wissen den Weg ins Café vermutlich besser als ich. Darf ich Ihnen den Arm reichen? Ich bin noch etwas wackelig, merke ich.“
Er nickte der Kollegin zu, die ihn für eine halbe Stunde ablösen würde, und konnte dabei den Stolz auf seine Eroberung nicht ganz verbergen.
„Sie haben mich geweckt. Ist es verboten, im Museum zu schlafen?“, sagte sie, als sie im Aufzug standen, der sie hinunter ins Untergeschoß brachte.
„Da es nur selten vorkommt, gibt es keinen Grund, dagegen einzuschreiten. Nein, es ging um Ihre Tasche. Sie war zu Boden gefallen. Das könnte jemandem aufgefallen sein, der auf solche Gelegenheiten wartet.“
„Gewissermaßen sind Sie jetzt der Dieb. Denn Sie haben nun mich am Arm und damit indirekt auch die Tasche. Und so aufmerksam wie ein Gelegenheitsdieb scheinen Sie auch zu sein.“ Wie sie das sagte, in diesem Celloton! Er war aufgeregt.
Sie hatten an einem der Souterrainfenster Platz genommen, durch das etwas Tageslicht vom höher gelegenen Innenhof einfiel. „Bestimmt haben Sie nun eine neue Erklärung für das Bild, so intensiv, wie Sie sich damit beschäftigt haben“, sagte er.
„Für die Frau mit der Waage? Es gibt so viele Deutungsversuche, da wäre es müßig, einen weiteren hinzuzufügen. Im Moment bin ich noch ganz erfüllt von dem Traum, den ich gerade hatte. Wenn es Sie interessiert, erzähle ich Ihnen die Geschichte.“
Er nickte, ganz hingegeben an ihre Stimme, ihr ebenmäßiges Gesicht, ihre Hände.
„Haben Sie wirklich so viel Geduld? Also das ging so: Es ist stockdunkel. Ich stehe neben dem Bett von Vermeer und rüttle ihn wach. Er wälzt sich vom Lager, zündet ein Öllämpchen an und führt mich in den Nebenraum, bis wir vor der Staffelei mit dem Bild stehen. Das Bild ist mit einem Tuch verhängt. Er zieht ein Gebetbuch aus der Tasche, schlägt es auf und beginnt, laut daraus vorzulesen. Das Gebet endet mit der Zeile: „Was verfügst Du zu tun mir?“ Mehr habe ich nicht behalten. Dann zieht er das Tuch von dem Bild. Es stellt eine vollendet schöne Frau mit hochgestecktem Haar dar. Es ist dieselbe hochschwangere Frau wie auf dem Bild der „Frau mit der Waage“, nur daß ihr Haar nicht mit einem Tuch bedeckt ist. Sie hält auch keine Waage in der Hand. Und die Wand ist kahl, wo jetzt als Bild im Bild das ‚Jüngste Gericht’ zu sehen ist. Mit leicht in den Nacken gelegtem Kopf sieht die Schöne in den ihr gegenüber hängenden Spiegel und ist im Begriff, sich die Perlenkette anzulegen, die sie in den Händen hält. An den Armen trägt sie schweren Goldschmuck. ‚Eine reiche Frau. Wie gewöhnlich!’, stößt Vermeer zornig hervor. Heute soll er das Bild abliefern, aber daraus werde nun nichts. Das Neugeborene werde Schaden nehmen, sobald es die Augen öffne und seine mit Perlen und Gold geschmückte Mutter erblicke, vom Reichtum für alle Zeit verdorben. Zornig schlägt er sich an die Stirn. Hier riß der Faden, weil Sie mich geweckt haben.“ Sie sah ihn gespielt vorwurfsvoll an.
„Aber vielleicht gibt der Traum auch schon so einige Hinweise. Vermeers Abscheu vor dem Reichtum, der übrigens auch der Ihre zu sein scheint, denn ich sehe keinen Schmuck an Ihnen.“
„Ja, das fiel mir gleich auf an dem Bild, daß der Schmuck achtlos herumliegt und die Frau keinerlei Schmuck trägt. Das macht mir den Maler so sympathisch.“ Sie nippte an ihrem Kaffee, die Tasse in beiden Händen haltend, weichen Händen mit kurz geschnittenen Nägeln, so kurz geschnitten, daß die Fingerkuppen sie überragten. Hände, dachte er, wie geschaffen, über fremde - seine - Haut zu streichen.
„So sympathisch und vertraut, daß Sie ihn in seinem Schlafgemach aufsuchen und ihn wachrütteln. Aber Spaß beiseite. Der Schmuck liegt nun einmal da, mag er auch achtlos aus den Schatullen hängen. Das könnte darauf hindeuten, daß Vermeer die Konzeption des Bildes tatsächlich geändert hat im Verlaufe der Arbeit an dem Werk. So ähnlich, wie es in Ihrem Traum geschah. Sonst hätte er den Schmuck vielleicht von Anfang an weggelassen.“
„Nein, nein“, ereiferte sie sich, „er brauchte den Schmuck, um Spannung in das Bild zu bringen. Er hat das bestimmt von Anfang an so geplant. Jetzt verstehe ich langsam auch meinen Traum. Was ich schon bei der Betrachtung des Bildes empfand, die Verachtung des Reichtums, spiegelte sich im Traum in Vermeers Zorn über das Bild einer Frau, die den Reichtum genießt.“
„Dann sind Sie im Traum also eine Art Engel, der Vermeer die Warnung überbringt, das Neugeborene nicht dem Anblick des Reichtums auszusetzen.“
„Hübsch gesagt. Nur daß ich noch nicht verstehe, was es mit dem Gebet auf sich hat.“
„Offenbar glauben Sie, Vermeer arbeite in göttlichem Auftrag. ‚Was verfügst Du zu tun mir?’ Woraus stammt diese Zeile eigentlich? Der Text muß Ihnen ja wohl bekannt gewesen sein.“
„Ich kenne ihn nur zum Teil, nur einige wenige Zeilen, beginnend mit ‚Dein bin ich, geboren zu Dir’. Sie stehen am Anfang der Novelle ‚Die Letzte am Schafott’. Aber viel weiter hilft mir das auch nicht.“
„Vielleicht hilft die Novelle weiter. Worum geht es denn darin?“
„Eine junge Karmeliterin irrt voller Angst durch die Wirren der französischen Revolution und findet schließlich zu sich selbst − oder soll ich sagen: zu Gott? −, indem sie freiwillig in den Tod geht.“
„Auch Vermeer findet also in der Arbeit an dem Bild zu sich selbst, das ist offenbar der Gedanke, den Sie bewußt noch nicht zu denken wagten. Erst im Traum bot er sich an.“
„Ganz schön mutig, die Umwege, die Sie da einschlagen, aber irgendwie einleuchtend. Statt daß Vermeer mit dem Bild zu sich selbst fand, könnte man vielleicht auch sagen, er fand mit dem Bild zu so etwas wie einer gültigen Darstellung einer werdenden Mutter.“
„Oh, wenn das nicht mutig ist!“ Er sog hörbar die Luft ein und sah auf die Uhr. „Ich muß gleich zurück, die Kollegin ablösen. Zu gern würde ich noch von Ihnen hören, wie Sie das begründen.“
„So schwierig ist das gar nicht. Was erhofft sich eine werdende Mutter für ihr Kind? Daß es lebensfroh und tüchtig wird und mit reinem Gewissen durch das Leben geht. Dazu braucht es Vernunft, rationales Denken, Zurechtkommen in der Welt. Und schließlich den Glauben an das ewige Leben, jedenfalls aus religiöser Sicht. Sind Sie religiös?“
Er schüttelte den Kopf.
„Um Himmels willen, ich habe Sie nicht ausschließen wollen.“ Sie sah ihn über ihre Brillengläser hinweg an. „Säkulare Moral tut es doch auch. Jedenfalls muß beides, Rationalität und Glaube − oder was an seine Stelle tritt −, ins Gleichgewicht kommen. Deswegen der gleichmütige Blick auf die Waage. Die Gewichte auf den Waagschalen noch einmal verdeutlicht durch die Verachtung des Reichtums auf der einen Seite, das ‚Jüngste Gericht’ auf der anderen.“
„Plausibel, höchst plausibel! Wir sollten Sie aufnehmen in den Stamm unserer Museumsführer. Schade, ich muß wieder nach oben. Sehen wir uns wieder?“
„Von Engeln weiß man nie, wo sie gerade gebraucht werden.“ Wie sie das sagte! Ihre Stimme, ihr Lächeln.
„Dann besteht ja eine Chance auf ein Wiedersehen. Denn auch bei unserer nächsten Ausstellung wird es wieder ungelöste Fragen geben“, sagte er, schon im Stehen.
„Hans Holbein, Vater und Sohn, hörte ich, steht auf Ihrem Programm. Ja, eine Menge ungelöster Fragen. Aber mit Ihnen zusammen sollte es möglich sein, die eine oder andere zu lösen.“ Sie lachte.
„Ich freue mich schon auf die Zusammenarbeit. Dann also bis bald.“ Er wandte sich zum Gehen. Der Kellnerin drückte er hastig fünf Euro in die Hand. Als er sich noch einmal umdrehte, war die Frau verschwunden. Er war sich nicht sicher, ob er sie noch einmal sehen würde. So war es immer, wenn er sich in eine Frau verguckt hatte.
© 2012 Wolf Christian von Wedel Parlow Redaktion: Frank Becker
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