Glanz am Gelenk

von Michael Zeller
Glanz am Gelenk
 
Im Linienbus, auf dem Weg zu einer Beerdigung. Draußen das Schmuddelwetter eines Februartags. Vor mir unterhalten sich zwei Frauen, auf Deutsch. Das Gesicht der Jüngeren, hinter einem Kinderwagen, kann ich nicht sehen, da sie im Profil zu mir steht. Doch das schwarze Kopftuch, aus glänzendem leichtem Stoff, verrät sie als Türkin. Die andere, eine korpulente Frau, könnte ihre Mutter sein. Die aber trägt ihr volles braunes Haar offen. Vor allem ihr Akzent ist es, der mich stutzig macht. Er ist der Grund, warum ich mich in das Gespräch vor mir hineindränge, als stummer Horcher.
 
Daß sie in der Firma XY arbeitet. ,,Vollzeit", sagt sie und lacht dabei, ein zufriedenes Lachen und durchaus stolz. „Vollzeit“ - das ist beinahe ein fremder Klang geworden in diesem Land zu diesen Zeiten. Ihr Mann dagegen – immer nur Zeitverträge, als Vertretung, wenn ein anderer ausfällt. Auch jetzt ist für ihn wieder Ende des Monats Schluß. Was soll werden -
 
Griechisch! Jetzt habe ich es. Die Ältere, die sich mit einer Türkin unterhält, auf Deutsch, ist Griechin. Die junge Türkin mit dem abgewandten Gesicht erzählt, daß das Kleine da vor
ihr im Wagen ihr drittes Kind sei. „Sind die Geburten gut gegangen?“ fragt die Griechin. Die Junge nickt. Das ist kein Thema für sie.
„Mein Sohn ist einundzwanzig und hat schon zwei Kinder“, sagt die Griechin. „Er hatte es eilig, sich Sorgen zu machen.“ Die beiden Frauen lachen. Ja, sie verstehen sich. Der Ton der Nähe rührt aus ihrem Frausein. „Kleine Kinder kleine Sorgen, große Kinder große Sorgen“, zitiert die Junge eine Lebensweisheit, vom Hörensagen. „Drei Kinder“, sagt die Griechin, wie ein Kumpel, von Frau zu Frau. „Das reicht jetzt aber“. Das nimmt die Türkin nicht an. Sie hebt die Schultern in ihrem dunklen Wintermantel. „Ich weiß es nicht", stellt sie dagegen.
 
Bei diesem Satz fährt etwas in mich, und ich sehe einen Abgrund aufklaffen zwischen zwei Lebensweisen. Einer, die ihre Existenz im Griff hat (oder zu haben meint) und der anderen, die sich offenhält, etwas einbezieht, das sie nicht bestimmen kann, allein schon gar nicht.
Diese Haltung macht mir die junge Frau im Schleier interessant. In ihrem Gesicht kann ich nicht lesen. Mir bleibt nur die Hand, direkt vor meiner Nase, mit der sie sich an der Stange im Bus festhält. Ich sehe das Rotbraun von Henna auf ihren Fingernägeln, aber nur ganz vorn, auf den weißen Rändern der Nägel aufgetragen. Ein Goldkettchen am Gelenk. Unter dem Mantel trägt sie enge Hosen. Ihre Füße stehen auf Stöckelschuhen, vorne spitz, wie es die Mode dieses Winters will.
 
Der Friedhof ist erreicht, ich steige aus. Mit mir die Türkin samt Kinderwagen, die Griechin fährt weiter. Die beiden Frauen wünschen einander noch einen schönen Tag. Die Verbundenheit durch das gemeinsame Geschlecht trägt diese Zufallsbekanntschaft des Alltags bis zuletzt. Jetzt, beim Aussteigen, könnte ich leicht in das Gesicht der Frau schauen, die sich nicht als Herrin über ihre Geburten ausgibt. Dennoch drehe ich mich nicht um.
In meiner hemmungslosen Neugier auf alles Menschliche hat diese junge Türkin mich eben eine Scheu gelehrt. In den Zügen ihres Gesichts könnte ich nicht mehr erkennen als dieses bescheidene, anheimgebende „Ich weiß es nicht“. Und mehr möchte auch ich jetzt gar nicht wissen.
 
 
 
© Michael Zeller – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2012