Oskar Schlemmers Menschenbilder

Grandiose Retrospektive in der Staatsgalerie Stuttgart

von Rainer K. Wick

Oskar Schlemmer mit Maske u. Metallobjekt um 1931
Oskar Schlemmers Menschenbilder

Grandiose Retrospektive in der Staatsgalerie Stuttgart
 

Schlemmer und Wuppertal
 
Nach einem durch Erbstreitigkeiten und Urheberrechtsprobleme verursachten Dornröschenschlaf von mehreren Jahrzehnten, in denen Ausstellungen und Publikationen rar waren, erlebt derzeit einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts in der Stuttgarter Staatsgalerie gleichsam eine zweite Geburt: Oskar Schlemmer. Kunstgeschichtlich verbindet sich das Werk des 1888 in Stuttgart geborenen Malers, Plastikers, Bühnenkünstlers und Kunstprofessors untrennbar mit dem 1919 in Weimar von Walter Gropius gegründeten Bauhaus. Doch gerade in Wuppertal, von wo aus die „Musenblätter“ täglich ihre Botschaften ins digitale Datenuniversum senden, sollte nicht vergessen werden, daß der Künstler seine letzten Schaffensjahre von 1940 bis kurz vor seinem frühen Tod 1943 in dieser damals bedeutenden westdeutschen Industriemetropole verbrachte. Als Bauhauskünstler von den Nationalsozialisten als „entartet“ gebrandmarkt und schon 1933 aus seinem letzten Lehramt an den Berliner Vereinigten Staatsschulen entlassen, fand er kurz nach Kriegsbeginn im „Lacktechnikum“ der Wuppertaler Lackfabrik Dr. Kurt Herberts eine Anstellung, um die künstlerischen Möglichkeiten des Lacks, eines in der abendländischen bildenden Kunst kaum gebräuchlichen Werkstoffs, auszuloten. Neben dieser Tätigkeit bei Herberts schuf er in der ihm verbleibenden freien Zeit eine Reihe eindrucksvoller Wuppertaler Stadtansichten, so etwa eine Ansicht des Schwebebahnhofs Kluse mit dem hoch aufragenden Rathausturm im Hintergrund. In den Monaten von April bis Juli 1942 entstand die berühmte Serie der sog. Fensterbilder. Es handelte sich um Blicke aus seinem Fenster im Haus Döppersberg 24 in die gegenüberliegenden, beleuchteten Wohnungen – strenge Kompositionen mit Personen in Innenräumen, in denen er zu finalen Formulierungen seines zentralen künstlerischen Themas fand, des Themas „Mensch“.


  Oskar Schlemmer, Schwebebahnhof Kluse in Wuppertal-Elberfeld 1941
 
Thema Mensch
 
Schon 1923, in seiner Zeit am Weimarer Bauhaus, hatte er geschrieben: Es „bleibt ein großes Thema uralt, ewig neu. Gegenstand der Bilder aller Zeiten: der Mensch, die menschliche Figur.“ Die aktuelle, überaus sehenswerte, von Ina Conzen kuratierte Ausstellung „Oskar Schlemmer – Visionen einer neuen Welt“ in der Stuttgarter Staatsgalerie dokumentiert die enorme Vielfalt seines künstlerischen Werkes, das sich trotz aller Wandlungen als beeindruckende Einheit präsentiert. In einer Zeit rasch aufeinanderfolgender und zum Teil miteinander konkurrierender Kunstrichtungen – Expressionismus, Dada, Konstruktivismus, Neue Sachlichkeit, Surrealismus – ist es Schlemmer gelungen, ein künstlerisches Œuvre von unverwechselbarer Individualität zu schaffen. Sein Ziel galt der Schaffung eines „allgemeingültigen Typus der Gestalt“, wie es die Schlemmer-Expertin Karin von Maur treffend formuliert hat, der – so paradox dies klingen mag – „zeitgemäß“, also „modern“, und zugleich „zeitlos“ sein sollte. Indem Schlemmer von der Darstellung physiognomischer, psychologischer und sozial-kultureller Differenzierungen absah, hat er als Maler, Plastiker, Zeichner und Graphiker, als Bühnengestalter und Kunstpädagoge ein Leben lang daran gearbeitet, den Menschen in seiner essentiellen Grundform, in seiner Idealität, zu erfassen.


Oskar Schlemmer, Plan mit Figuren 1919

Die Stuttgarter Ausstellung zeichnet in großer Bandbreite mit exemplarischen Werken die gesamte künstlerische Entwicklung des Künstlers nach – beginnend mit frühen Arbeiten Schlemmers, etwa Landschaften, die zunächst von seinem Lehrer Adolf Hölzel beeinflußt sind, später dann von Cézanne und dem Kubismus. Seine Figuren und Köpfe aus den Jahren 1913/14 zeigen bereits eine auffällige Tendenz zur Abstraktion und Typisierung, und in den Kriegsjahren gelangen ihm erste prototypische Formulierungen des Themas „Mensch“. In seinem beharrlichen  Streben nach „Formvollendung und Ideentiefe“ galt ihm der Mensch als „höchster Gegenstand“. „Plan mit Figuren“ von 1919 zeigt menschliche Figuren in formelhafter Reduzierung – erwähnt sei die typische Violinkontur – und eine strenge, gleichsam tektonische Flächenbindung. Das heißt, die Figuren erscheinen in ein System von Horizontalen und Vertikalen eingespannt, das ihnen auf der Bildfläche Halt und Festigkeit gibt. Ähnliches gilt für die Komposition „Geteilte Jünglingsfigur“ von 1921, die kurz nach der Berufung des Künstlers an das Staatliche Bauhaus in Weimar entstand. Sichtbar wird hier jener „anthropozentrische Konstruktivismus“ (Karin von Maur), der sich als Synthese aus geometrischer Form und menschlicher Figur darstellt.
 
Metaphysische Räume
 
Blieb bis in die frühen 1920er Jahre die strenge Flächengeometrie ein Hauptmerkmal der Bilder Schlemmers, so zeichnet sich um 1922/23 nicht

Oskar Schlemmer, Ruheraum 1925
im Thematischen, wohl aber im Formalen ein grundsätzlicher Wandel ab. An die Stelle einer flächenbetonten Bildstruktur treten nun Räumlichkeit und Körperhaftigkeit. Die Figuren erscheinen plastisch gerundet und befinden sich in perspektivisch gestalteten Räumen. Hauptwerke, die diese Entwicklung belegen, sind „Die Geste, Tänzerin“ von 1922 (in der Ausstellung leider nur durch kleine Skizzen dokumentiert) „Tischgesellschaft“ von 1923 (in Stuttgart eine Aquarellstudie) oder „Ruheraum“ (1925). Obwohl der Raum in diesen Bildern perspektivische Tiefe hat, folgt diese Perspektive nicht immer den strengen Regeln der euklidischen Geometrie, so daß oft kein „stimmiges“ Raumkontinuum im Sinne des Systemraumes der Renaissance entsteht, sondern ein „irrealer“, „metaphysischer“ Raum, der an die italienische „pittura metafisica“ eines Giorgio de Chirico erinnert.
Enttäuscht, daß sich am frühen Bauhaus die Idee des Gesamtkunstwerks aus Baukunst, Plastik und Malerei und die proklamierte Einheit von Kunst und Leben, von „freier Kunst“ und „angewandter Gestaltung“ offenbar nicht so schnell wie erhofft in die Tat umsetzen ließ, notierte Schlemmer 1922: „Besinnung auf Kunst. [...] Es bleibt das Metaphysische: die Kunst.“ Und bezugnehmend auf den Romantiker Philipp Otto Runge, der neben Caspar David Friedrich einer seiner Lieblingskünstler war, prägte er 1925 den Begriff der „metaphysischen Mathematik“ und betonte, daß sein eigentliches künstlerisches Interesse in Richtung „der metaphysischen Räume, der metaphysischen Perspektiven, der metaphysischen Figur“ gehe.
 
Tänzerische Mathematik
 
Schlemmer war nicht nur Schöpfer von Tafelbildern (sog. Galeriebildern) und Wandgestaltungen sowie Plastiker (genannt sei nur seine „Abstrakte Figur“ von 1921/23, und erinnert sei an die Tatsache, daß er am Bauhaus in Weimar jahrelang die Werkstatt für Bildhauerei geleitet hat), sondern auch Tanzgestalter und Bühnenkünstler. Für ihn galten auf der Bühne die gleichen Prinzipien wie in der Malerei und Plastik, denn nach seiner Überzeugung habe die Bühne dem „metaphysischen Bedürfnis des Menschen“ zu dienen, „indem sie eine Scheinwelt aufrichtet und auf der Basis des Rationalen das Transzendentale schafft.“ Diese metaphysische Funktion sei nur in Gestalt der „Typenbühne“ zu erfüllen, die sich gleichermaßen vom literarischen wie vom politischen Theater zu unterscheiden habe. So fand die Schaffung eines idealisierten Figurentypus in Schlemmers bildnerischem Œuvre im Bereich der Bühne ihr Gegenstück in der entindividualisierenden Typisierung durch Maske und Kostüm. Beide waren anfänglich oft grotesk übersteigert und raumplastisch ausgreifend, wie die in der Stuttgarter Retrospektive effektvoll inszenierten Figurinen zum legendären „Triadischen Ballett“ (1922) zeigen. Später trugen die Darsteller meist einfache Trikots, etwa in den „drei Primärfarben Gelb, Rot und Blau, und standardisierte Masken, so daß sich ein universaler Typenkopf ergab. Und die Bewegungen der Darsteller im Raum folgten einer strengen Tanzgeometrie bzw. – mit einem Begriff des Künstlers – einer „tänzerischen Mathematik“.


Oskar Schlemmer,  Figurinen zum Triadischen Ballett
 
Zwei Programmbilder
 
Doch zurück zur Malerei. Zu den eindrucksvollsten Bildern der Stuttgarter Ausstellung gehört das im Œuvre des Künstlers singuläre Gemälde „Paracelsus, Der Gesetzgeber“ aus dem Jahr 1923. Hier ging es Schlemmer nicht um Porträtähnlichkeit, sondern um die Hommage an ein von ihm hochverehrtes geistiges Idol an der Schwelle zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit, dessen kosmologischem Konzept einer Konkordanz von Mikrokosmos und Makrokosmos den Künstler ebenso beeindruckt hatte wie dessen Dreigliederung des Menschen in einen irdischen, sichtbaren Leib, einen himmlischen, unsichtbaren Lebensgeist und eine göttliche Seele, die die Quelle des Erkennens, der Sittlichkeit und der Seligkeit sei und die den Menschen über die bloß irdischen Bedingungen heraushebe und seine Gottesebenbildlichkeit begründe. Daß das Bild den Untertitel „Der Gesetzgeber“ trägt, ist kein Zufall. Denn bei seiner lebenslangen Suche nach der großen, klaren, gültigen, „objektiven“ Form entschied sich Schlemmer ungeachtet aller metaphysischen Neigungen für „Zahl, Maß und Gesetz“ und beharrte auf jener „strengen Regularität“, die schon Philipp Otto Runge eingefordert hatte.


Oskar Schlemmer,  Bauhaustreppe, 1932

Absolutes Glanzlicht der Ausstellung ist die „Bauhaustreppe“ von 1932, ein Schlüsselwerk, das als Leihgabe aus New York nach Stuttgart reisen durfte. Schlemmer hatte das Bauhaus, das 1925 nach Dessau umgezogen war, bereits 1929 verlassen, drei Jahre, bevor die inzwischen im Stadtparlament dominierende NSDAP die Schließung dieser progressivsten Kunstschule der Zwischenkriegszeit durchsetzen konnte. Das Bild, das Figuren im lichtdurchfluteten Treppenhaus des Werkstattflügels des von Gropius entworfenen neuen Schulgebäudes zeigt, ist mehr als nur eine persönliche Reminiszenz des Künstlers an seine Zeit am Bauhaus, sondern hat als Symbol der Moderne längst Kultstatus erlangt. Tatsächlich scheint in diesem großformatigen Gemälde die „Vision einer neuen Welt“ (so Untertitel der Stuttgarter Retrospektive) auf, die von der utopischen Hoffnung auf einen „neuen Menschen“ in einer „neuen“, besseren, humaneren und sozial gerechteren Gesellschaft getragen war. Daß das nicht immer verstanden wurde und daß vor allem der von Schlemmer unablässig durchdeklinierte, überindividuelle Typus der menschlichen Figur Irritationen auslöste, war dem Künstler selbst bewußt: „Man wendet oft ein, daß meine ‚Menschen‘ keine ‚Gesichter‘ haben, höchstens ‚Puppengesichter‘. Man versteht leider nicht, daß dies Absicht ist, daß dies nicht anders möglich ist. Ehe wir das ‚Antlitz‘ malen können, malen dürfen, müssen wir den Typus erkennen, das Unpersönliche. Das ist wirklich keine ‚Vermassung‘.“
Begleitet wird die grandiose Stuttgarter Schlemmer-Retrospektive von einem exzellenten, bei Hirmer in gewohnter Druck- und Ausstattungsqualität erschienenen, dreihundert Seiten umfassenden Katalogbuch mit reichem Bildmaterial und aufschlußreichen Textbeiträgen von Ina Conzen, Wolf Eiermann, Susanne M. I. Kaufmann, Karin von Maur, Birgit Sonna und Friederike Zimmermann, die die nach wie vor grundlegende und unverzichtbare Standardliteratur zu Schlemmer von Karin von Maur (Monografie und Werkverzeichnis), Wulf Herzogenrath (Wandgestaltungen) und Dirk Scheper (Bühne) zwar nicht ersetzen, aber durch einige interessante Facetten und neue Akzentuierungen ergänzen und bereichern.
 
Oskar Schlemmer – Visionen einer neuen Welt
Staatsgalerie Stuttgart
Konrad-Adenauer-Str. 30-32 - 70173 Stuttgart
bis 06.04.2015
täglich außer montags 10-18 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr
Weitere Informationen: www.oskarschlemmer-stuttgart.de/

Katalogbuch im Hirmer Verlag, München; im Museumsshop 29,90 €, im Buchhandel 49,90 €
Weitere Informationen: www.hirmerverlag.de/

alle Abbildungen © Staatsgalerie Stuttgart