Gangster

von Karl Otto Mühl
Gangster
 
Ich werde später drüber nachdenken, hatte er gedacht, während er vorbei an dem weißbekittelten jungen Mann zum Ausgang stürmte. Das später zu Bedenkende war zu einem Bild geronnen, einem Geröllhaufen auf einer steil ansteigenden Straße in der prallen Mittagssonne, einem erbarmungslosen Bild. Vielleicht hatte er auch gedacht, wie es wohl  für ihn sein würde, wenn er wieder alles vor sich sähe, diesen jungen Filialleiter, der seinen Arm mit der Pistole ergreifen wollte, den langsam sich vergrößernden Blutfleck auf dem Kittel –  wie er es ertragen würde…
 
Aber draußen war nichts von praller Sonne zu sehen, sondern nur abendliche Winterdämmerung und Schnee, überall Schnee. Er hatte bei Lucie geklingelt, aber sie hatte nur durch den Türspalt geflüstert: Verschwinde sofort! Die Polizei hat schon nach dir gesucht.
 
Er hätte niemals gedacht, daß er einmal im Schnee mit einer eiskalten Bank unter dem Hintern in dem kleinen Park sitzen würde, dem Park neben dem Autobahnzubringer, der nicht größer als ein Viertel Fußballfeld war. Aber er saß da, mit der Absicht, nachzudenken. Wohin jetzt? Tommy war mit dem Auto davon gejagt, als er merkte, daß die Polizei alarmiert war. Und nun saß er da mit langsam zufrierendem Arsch, und er dachte überhaupt nicht an Fluchtorte, denn er wußte keinen, sondern nur in etwa: wenn jetzt jemand käme und gut zu mir wäre. Er fühlte, daß er Mitleid brauchte. Und das würde niemals mehr jemand für ihn empfinden, sagte jemand neben ihm. Da saß freilich niemand Richtiges, den man sehen konnte, aber er war da und sprach, und am meisten schien das aber doch eine Frau zu sein, denn die Stimme war sehr sanft.
Also, dann sag mir, was ich tun soll!
Du hast es doch selbst gedacht. Soeben. Gut zu jemand sein. Mitleid haben.
Ich bitte dich, sagte er, Du drehst mir die Worte im Mund herum –
Nein. Man muß Gutes tun. Mach nicht diese blöden Unterschiede,
 
Gutes tun…,  Gutes tun…
 
An dieser Stelle verkürzt sich dieser Bericht. Der Gangster bekam tatsächlich Gelegenheit dazu. Ein schwangeres junges Mädchen kam, hochschwanger sogar. Irgendjemand hatte sie verstoßen. Sie fror erbärmlich und hatte Angst, das Kind in ihrem Leib könne Schaden nehmen.
Der Gangster gab ihr seine Jacke und begleitete sie in die Klinik.
Später sagte er, diesen Antrieb zu Hilfe hätte in dieser Situation jeder Mensch. Bevor er hätte  nachdenken können, um vielleicht diesen Unsinn zu lassen, sei es schon geschehen gewesen. Und das Kind sei dann ja auch sehr rasch gekommen. Aber er würde schon genügend Scheiße bauen, um der Welt zu zeigen, daß er ihre Gesetze und ihren Zustand durchaus vor Augen hätte. Sie hätte nur Leute wie ihn verdient.
Anschließend begab er sich aber doch an die Pforte der Klinik und ließ die Polizei rufen. Draußen war es einfach zu kalt.
 
 
Ich nahm diese zwei Blätter aus dem Drucker und gab sie meiner Frau, die sie überflog.
 
Einen Mord schilderst du? Fragte sie. Das können doch Henning Mankell und Ulrich Land viel besser. Und dann dieses Herumdenken und Erinnern! Wie ich das hasse! Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst…
Ich weiß, unterbrach ich sie - sagt Goethe.
 
Richtig, sagte meine Frau. Also, um es kurz zu machen, dies ist reinster Kitsch. Und wie gebildet dein Gangster daherdenkt!
Ich weiß, antwortete ich kleinlaut. Ich wollte es nur mal probieren. Endlich mal etwas, was ankommt bei den Leuten.
Meine Frau blickte mich länger prüfend an.
Du lügst, sagte sie dann. Du glaubst an so etwas. An das Gute undsoweiter. Du warst schon immer so. Hör auf, mir etwas vorzumachen.
 
 
 
© Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2011