1683 - Als Europa vor 330 Jahren um ein Haar unter die Türken fiel

Johannes Sachslehner - "Anno 1683 - Die Türken vor Wien"

von Frank Becker
Als Europa um ein Haar
unter die Türken fiel


Vor 330 Jahren, am 12. September 1683
unterliegt das türkische Invasionsheer
unter Kara Mustafa
in der Schlacht am
Kahlenberg
den Armeen der Allianz

Johannes Sachslehners
Chronik des Jahres 1683
dokumentiert die Geschichte neu


Mit Pomp, Feuerwerk und rauschenden Festen begeht der europäische Adel, darunter die Mitteleuropa beherrschende habsburgische Wiener Aristokratie unter der Regentschaft von Kaiser Leopold I, den Beginn des Jahres 1683. Man ignoriert in unglaublicher Hybris die deutlichen Anzeichen eines sich unmißverständlich abzeichnenden Angriffs des Osmanischen Reichs unter Großwesir Kara Mustafa auf die Festung Europa, deren Schlüssel in Wien liegt. Der 1664 zwischen Leopold I. und dem Großwesir Ahmed Köprülü abgeschlossene Friedensvertrag war nicht verlängert worden. Sultan Mehmed IV. will nun vollenden, was 1529 Sultan Süleyman I., dem "Prächtigen" mißlungen war, der Stadt, die als Bollwerk zwischen dem bedingungslosen territorialen und religiösen Hegemoniebestreben der Muselmanen und dem reichen, „ungläubigen“ Europa liegt, das Rückgrat zu brechen. Der Weg zur Herrschaft des Islam über Gesamt-Europa wäre damit frei und die Türken würden Europa, den Mittelmeerraum, Vorderasien und das bis dahin erforschte Afrika kontrollieren.

Der „Goldene Apfel“

Der „Goldene Apfel“, wie Wien bei den Osmanen genannt wird, weckt so viel Begehrlichkeit, der Sieg scheint aufgrund der osmanischen Truppenstärke von weit über 120.000 Mann so gewiß, daß auch auf Seiten der Angreifer der Blick für die möglichen Hindernisse und Risiken verloren geht. Denn auch die Türken sind von ihrer scheinbaren Allmacht und dem lockenden Ziel geblendet. Zwar feiern die vorrückenden Truppen und ihre Vasallen Sieg auf Sieg, überrennen den Balkan und nähern sich in unglaublicher Geschwindigkeit dem Ziel Wien, doch wird die förmlich in letzter Minute befestigte Bastion auch dank des entbehrungsreichen Einsatzes der Bürgerschaft und der Stadtwehr für die Angreifer ein sehr saurer Apfel.
Während sich der dekadente Adel in Sicherheit bringt und Leopold aus Wien nach Passau flieht, organisieren Bürgermeister Johann Andreas von Liebenberg und der Stadtkommandant Feldzeugmeister Ernst Rüdiger Graf von Starhemberg in aller Eile Schanzarbeiten und Verteidigung. Im Feld stellen sich – ebenfalls in allerletzter Minute – nach zähen Verhandlungen Entsatzarmeen der Kaiserlichen, der Polen unter Jan Sobieski, der für sich dadurch den Königstitel erzwang, Bayern, Venedig, Lothringen und Sachsen sowie der südwestdeutschen Fürstentümer dem angreifenden Herr von Türken und Tataren. Frankreichs König Ludwig XIV. stellt sich passiv auf die Seite der Türken, weil er sich dadurch die Habsburger vom Hals zu schaffen glaubt.

Festung Wien

Das Wiener Umland wird überrannt, das Land von der bisherigen Grenze zwischen den Reichen durch plündernde Truppen beider Seiten verwüstet. Die Türken brandschatzen Ort um Ort, erschlagen Zigtausende der Landbevölkerung, bringen vor allem um, wer sich nicht zum Islam bekennen will, darunter vornehmlich eine Vielzahl von christlichen Pfarrern, die ihrem Glauben nicht abschwören wollen. Aber da sind sie kaum schlimmer als die „Katholischmacher“ des Papstes, der die europäische Verteidigungsallianz finanziell unterstützt. Am 14. Juli 1683 gelingt es den Türken zunächst, Wien von drei Seiten zum umschließen, schließlich am 16. Juli den Ring zu schließen. Bis zum 12. September verteidigt Starhemberg Wien erbittert. Festungsbaumeister Georg Rimpler, der den Angreifern durch seinen Erfindungsreichtum immer neue Hindernisse in den Weg legen konnte und schließlich am Tag der Entscheidungsschlacht die türkische Hauptmine entschärfte, kommt dabei besonderer Verdienst zu. Er starb kurz nach der Befreiung an den Verletzungen, die er während der Minenkämpfe erlitten hatte. Die Artilleriegefechte, Grabenkämpfe und der Minenkrieg kosten Tausende auf beiden Seiten das Leben, bis Jan Sobieski die Osmanen zurückschlagen und Wien befreien kann. Erst Tage später setzen die Alliierten den Türken nach, die im Verlauf ihres Rückzugs noch viele tausend Mann und vor allem Territorien verlieren. Es ist das Ende der türkischen Träume von einem islamischen Europa.

Chronik der Ereignisse

Johannes Sachslehner hat akribisch aus einer Vielzahl von historischen Quellen und der wichtigsten Literatur Informationen geschöpft, die er als tagebuchartige Chronik der Ereignisse vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 1683 zusammengestellt hat. Tag für Tag läßt er, oft parallel aus Habsburger und türkischer Sicht, die Entwicklungen und Ereignisse ablaufen. Politische Bündnisse, militärische Strategien, Ausrüstungs-, Versorgungs- und Krankheitsprobleme, der Not geschuldete technische und organisatorische Neuerungen, aber auch das Leid der Land- und Stadtbevölkerung sowie die Schicksale von Individuen füllen spannender als jeder Roman die 385 z.T. illustrierten Seiten dieses Geschichts-Krimis. Nicht zuletzt die Inkompetenz und die Uneinigkeit vieler Verantwortlicher, die um ein Haar das Abendland in die Hände der Türken hätten fallen lassen, läßt den Leser in den historisch belegten Momenten mitfiebern, in denen das Schicksal des Abendlandes an seidenen Fäden hing. Angehängt sind 10 weitere Seiten mit Glossar und Quellen. Ein Namensindex fehlt leider. Dennoch ist „Anno 1683“ das spannendste und aufschlußreichste Buch, das ich bisher über die zweite Belagerung Wiens durch die Türken habe lesen können. „Dieses packende Buch erzählt (…) die Fakten und verzichtet auf langweilige Interpretationen. 365 Tage lang immer am Puls des Geschehens, feiert es keine „Helden“, sondern nennt die Dinge beim Namen: eindringlich schildert es das Schicksal von Tätern und Opfern, gibt eine Ahnung von Unheil und Chaos, die Fanatismus und Haß, Ruhmsucht und Grausamkeit anrichteten“, schreibt der Verlag in seinem Klappentext. Dem ist nichts hinzuzufügen. Eine Empfehlung der Musenblätter.
 
Dr. Johannes Sachslehner – „Anno 1683 – Die Türken vor Wien“
© 2011 Pichler Verlag, 408 Seiten, gebunden, 13,5 x 21,5 cm, ISBN 978-3-85431-575-9
24,99 €
Weitere informationen:  pichlerverlag.styriabooks.at