Unsere sogenannten offenen Augen

von Hanns Dieter Hüsch

© André Polozcek / Archiv Musenblätter
Unsere sogenannten offenen Augen
 
Eigentlich wollte ich die folgende Geschichte gar nicht schreiben. Aber meine Frau hat gesagt: »Schreib sie ruhig auf, du mußt nicht immer nur lustig sein, du kannst zwischendurch ruhig mal etwas Leises erzählen!« Das Leise kommt sowieso immer mehr aus der Mode! Auch in der Kleinkunst! Und da meine Frau ja immer recht hat und in meinen Geschichten sowieso oft vorkommt, habe ich die Geschichte dann doch geschrieben. Also: Wir waren am spazieren gehen - so sagt man am Niederrhein - am spazieren gehen - das kommt aus dem Englischen - da sagt man ja auch: I am going to see - in Homberg am Niederrhein, gegenüber von Ruhrort. Da sagt man zum Beispiel nicht: »Nimm Platz!« Sondern: »Geh sitzen!« Da wußte ich als Kind nie, was ich machen sollte! Gehen oder sitzen! Meine Omma sagte immer: »Geh ma auf de Bank sitzen!« Da bin ich zuerst auf der Bank ein paar Schritte gegangen und dann habe ich mich erst hingesetzt! Also: Wir waren am spazieren gehen, das heißt, wir wollten in den Circus Roncalli, die Karten hatten wir schon, und da wir noch ein bißchen Zeit hatten, sind wir noch eine halbe Stunde spazieren gegangen und haben uns alles mögliche angeguckt! Also wunderbare Geschäfte mit wunderschönen Sachen. Und meine Frau sagte: »Kannst ja froh sein, daß Sonntag ist!« Auf einmal hörten wir hinter uns - wir sind gar nicht schnell gegangen -, hörten wir hinter uns, wie eine Frau zu jemandem sagte: »Und jetzt ist hier eine Sparkasse genau vor uns, wo wir jetzt stehen, und in der Sparkasse ist ein Käthe-Kollwitz-Museum, und gleich daneben ist eine große Buchhandlung mit vielen Rolltreppen innen drin, und unten ist ein Café. Da kann man sitzen und lesen! Und dann kommt ein paar Schritte weiter ein Herrenbekleidungsgeschäft, und um die Ecke ist dann noch ein kleiner Platz, da kann man auch sitzen und Kaffee trinken  Und allmählich merkten wir, daß die Frau zu einem blinden Mann sprach, daß die Frau dem blinden Mann die Welt erklärte, unsere Welt! Und das hat uns ganz schön berührt! Wahrscheinlich, weil wir auf einmal ganz stark merkten, was wir für ein Glück haben mit unseren sogenannten offenen Augen! Und ich habe mir nur eine Sekunde - länger geht das gar nicht -, eine Sekunde vorgestellt, wie das wohl ist, blind zu sein und nicht zu wissen, wie die Welt aussieht! Oder vielleicht hat man es mal gewußt und ist dann blind geworden! Wie oft sagen wir doch: Man möchte nichts mehr hören und sehen! Aber wenn einer überhaupt nichts von der Welt weiß, was stellt der sich unter einer Sparkasse vor oder unter einem Herrenbekleidungsgeschäft! Was muß in dessen Kopf alles vor sich gehen? Ich frage das jetzt mal als Laie! Wissenschaftlich weiß man sicher längst Bescheid. Ja, und als wir schon lang im Zirkus saßen und unsere Popcorntüten in der Hand hatten, dachten wir immer noch an die Frau, die dem blinden Mann die Welt erklärte! Unsere Welt! Und erst als die zarten weißen Pferde, die mich sowieso immer zu Tränen rühren, ungestüm in die Manege liefen, vergaßen wir den blinden Mann und gaben uns einem großen zirzensischen Erlebnis hin. Und meine Frau hat am nächsten Tag gesagt: »Du kannst die Geschichte ruhig aufschreiben und erzählen!« Was ich hiermit getan habe!



© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Es kommt immer was dazwischen" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung