Nichts ist, wie es aussieht

Donna Leon - "Reiches Erbe"

von Frank Becker
Nichts ist, wie es aussieht

In ihrem 20. Fall müssen der Venezianische Commissario Guido Brunetti sich mit seine Mitarbeitern Inspektor Vianello und die unersetzliche Bürokraft Signorine Elettra Zorzi wieder einmal mit der Unzulänglichkeit der italienischen Verwaltung, mit der Korruption in Staat und Wirtschaft, mit Betrug, Vetternwirtschaft, undurchsichtigen Immobiliengeschaäften und dem Dschungel des Internet (als dessen Meisterin sich Signorina Elettra sich eins ums andere Mal erweist) und mit dem allgegenwärtigen Mißtrauen gegen die Polizei herumschlagen. Eine alte Dame ist gestorben, und trotz fehlender objektiver Hinweise auf ein Fremdverschulden sowie der eindeutig auf ein natürliches Herzversagen schließenden Diagnose des korrekten Gerichtsmediziners Rizzardi bleibt Brunetti mißtrauisch - er
wittert einen Fall. Daß er damit bei seinem Vorgesetzten Vice-Questore Patta auf Widerstand stößt, liegt auf der Hand, denn Patta will wie stets Aufsehen und Unruhe vermeiden - zumal die Verstorbene Constanza Altavilla und ihr Sohn Dottore Niccolini zur Gesellschaft gehör(t)en.

Mit bewährtem und vertrautem Personal, einschließlich des intriganten Leutnant Scarpa, entwickelt Donna Leon in ihrem 20. Brunetti-Roman vor der schattenreichen Kulisse der schönen Stadt Venedig eine Story, die ich weniger als Kriminalroman denn als nachdenklich kritische Gesellschaftsstudie bezeichnen möchte. Ohnehin legt Donna Leon
am Beispiel der morbiden Dekadenz Venedigs schon lange besonderes Gewicht auf die Darstellung der fatalen gesellschaftlichen Zustände Italiens. Und sie gibt ihrem Romanhelden Brunetti mehr und mehr Züge eines Mannes, der an dieser Dekadenz zerbrechen würde, hätte er nicht das stützende soziale Gefüge seiner intakten Familie und könnte er sich nicht in den privaten und intellektuellen Ausgleich retten. Denn auch in "Reiches Erbe" spielt das private Umfeld wieder eine bedeutende Rolle für den sich mehr und mehr zum Gesellschaftsmisanthropen mendelnden Commissario.

Der Leser erfährt vom sozialen Engagement der Verstorbenen, das Motive für einen Mord kaum herzugeben scheint, von dubiosen Erbabwicklungen, bei denen der Rechtsanwalt Cuccetti eine undurchsichtige Rolle spielt und trifft mit Brunetti auf wenig gesprächige Zeugen, darunter einen gewissen Benito Morandi. Ist oder "hat" er den Schlüssel zu den Fragen, in die sich Brunetti aller Vernunft zum Trotz verbissen versteigt? Und welche Rolle spielt die katholische Kirche in Gestalt eines ordensgeführten privaten Altersheims? Daß Brunetti sich mit zwar schlechtem Gewissen, doch zufrieden auch gelegentlich effektiver illegaler Mittel zum Erfolg bedient, macht ihn nicht weniger sympathisch. Donna Leon hat in ihrem jüngsten Roman merkbar das Tempo reduziert, hält die Spannung jedoch ungebrochen, wenn auch unterschwellig hoch. Die Lösung, die sich schließlich anbietet, bestätigt das Bild, das sie von den Verhältnissen in Venedig und Italien gewonnen hat - und offenbart eine lakonische Milde ihres Commissario. Ein lesenswertes Buch.

Beispielbild

Donna Leon
Reiches Erbe

Roman

© 2012 Diogenes Velag
317 Seiten, GLn. m. Schutzumschl.
22,90 €

Weitere Informationen:
www.diogenes.ch