„And now to something completely different…“

Boris Johnson - "72 Jungfrauen"

von Frank Becker

Umschlagbild: Goran Tesanovic
„And now to something
completely different…“
 
oder

Der trojanische Krankenwagen

Es hat zwar acht Jahre gebraucht, bis dieser Bestseller in deutscher Sprache erscheinen konnte, aber das Warten hat sich gelohnt. Boris Johnsons bitterböse, urkomische Polit-Satire „72 Jungfrauen“, bereits 2004 in England publiziert, hat bis heute nichts, aber auch rein gar nichts an Aktualität, realistischem Hintergrund und Witz eingebüßt. Da schafft es eine völlig dämliche, weltfremde islamische Gurkentruppe, trotz eigener verheerender Pannen und gigantischer Sicherheitsmaßnahmen während eines Staatsbesuches in London den Präsidenten der USA und 800 Gäste im House of Parliament als Geiseln zu nehmen. Vor laufenden Fernsehkameras, notabene, damit die ganze Welt zuschauen und den abstrusen Forderungen der Geiselnehmer Haroun, Habib, Jones (al.), des Prolo-Konvertiten Dean und einer arabisch-palästinensischen Hilfstruppe aus den Reihen des diplomatischen Corps live folgen kann. Daß es überhaupt so weit kommen kann, verdankt der Plot einer unglaublichen Summe von Inkompetenz, Kommunikationsmängeln, Mißverständnissen, Trägheit, Kompetenzgerangel, Selbstgefälligkeit und schlichten Pannen innerhalb von Londons Sicherheitsapparat, der CIA und des Secret Service. So, wie es eben in solchen Kreisen und im wahren Leben ist. Das sieht Boris Johnson ganz richtig.
 
Mit einem gerüttelt Maß an schwarzem Humor, beißendem Sarkasmus, ja hohntriefender Ironie und vor allem der schonungslosen Entlarvung der Blödheit und gefährlichen Bigotterie moslemischer Fanatiker entwickelt Johnson seine haarsträubende Story. Warum sind diese verblendeten Burschen eigentlich bereit, sich in die Luft zu sprengen? Weil sie wirklich an das Ammenmärchen von den 72 Jungfrauen glauben, die angeblich im Paradies (wo sie allenfalls als Haschée ankommen) auf sie warten und ihnen die pulverisierte Nudel lutschen? So doof kann man doch einfach nicht sein, muß man annehmen – und der Ober-Terrorist al. Jones weiß das gut, denn er denkt gar nicht daran, sich ebenfalls in die Luft zu jagen. Das Sterben überlassen die Bosse nämlich auch beim Dschihad dem dummen Fußvolk. Die Arroganz und Liebedienerei westlicher Gutmenschen, die verhängnisvolle Willfährigkeit einer liebeshungrigen, vaginalgesteuerten Frau und die eines kaum weniger tumben diplomatischen Vertreters eines Kulturvolkes kommen dem Plan der Attentäter entgegen. Wie wird es wohl ausgehen? Müssen der US-Präsident und die 800 Geiseln sterben? Wird sich jemand auflehnen, oder naht Rettung durch die bis an die Zähne bewaffneten Sondereinheiten der Briten und Amerikaner? Johnsons überbordende und doch immer dicht an den Möglichkeiten bleibende Phantasie kennt da keine Grenzen. Bei aller Groteske aber ängstigt die hirnverbrannte, zu allem entschlossene Mordlust religiöser Fanatiker, die vor elf Jahren mit 9/11 ihren fürchterlichen Höhepunkt erreichte und täglich in aller Welt durch verblendete Selbstmordattentäter aufs Neue dokumentiert wird.

Boris Johnson ist seit 2008 Oberbürgermeister der Stadt, in der er 2004 die Handlung seines turbulenten, verrückten, völlig überdrehten und zugleich erschreckend realistischen Buchs angelegt hat. Er kennt nicht nur Weg und Steg, lokale, nationale und internationale Politik und die Arbeit der Sicherheitsorgane seines und anderer Länder intim – er kennt die Menschen vor und hinter den Kulissen mit allen ihren vermeintlichen Stärken, tatsächlichen Schwächen, ihren spinnerten Ideen, politischen Abwegigkeiten und fürchterlichen Eitelkeiten. Einen unglaublichen Haufen von Schwätzern läßt er unerhört witzig und mit der Eloquenz einer Tüte Windbeutel zu Wort kommen, im Grunde sind das fast alle, die er reden läßt. Gibt es denn gar keine Helden in diesem Tohuwabohu? Doch, sogar vier, nach meiner ganz persönlichen Zählung: Meine beiden großen Helden sind der unkaputtbare Jason Pickel und der bis zum letzten konsequente William Eric Kinloch Oneyama, meine stille Liebe gilt der „Eisenhose“ Lady Lovell und sogar dem US-Präsidenten hat Johnson ein paar Sympathiepunkte geschenkt. Ich werde Ihnen hier nicht erzählen, wie die verzwickte Sache sich ent-wickelt, nur soviel, daß schließlich eine Herrentoilette neu gestrichen werden muß. Eine Farce, gewiß, aber eine mit dem Finger am Abzug.
 
Seine kenntnisreiche Vergangenheit als Boulevard-Journalist und sein aberwitziges Sprachvermögen (ein ganz großes Kompliment gilt hier der Übersetzerin Juliane Zaubitzer) haben den Roman zu einer raren Pretiose gemacht. Boris Johnson sollte sich gut überlegen, ob er diesem fulminanten literarischen Erstlingswerk (seine feuilletonistischen Versuche mit Sachbüchern lassen wir hier mal raus) überhaupt ein weiteres folgen läßt. Denn mit „72 Jungfrauen“, dem komischsten, zugleich literarisch wertvollsten Kulturerzeugnis seit Monty Python hat er, ohne sich in die Luft sprengen zu müssen, auf ewig einen Platz im Literaturhimmel gewonnen. Wenn ein Buch unsere Auszeichnung, den Musenkuß, verdient hat, dann dieses!
 
Boris Johnson – „72 Jungfrauen“
Deutsch von Juliane Zaubitzer
2012 Haffmans & Tolkemitt, 416 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-942989-13-8
19,95 Euro
 
Weitere Informationen: www.haffmans-tolkemitt.de