Abgründe der Liebe

Bodo Kirchhoff - „Die Liebe in groben Zügen“ und „Legenden um den eigenen Körper“

von Jörg Aufenanger
Abgründe der Liebe
 
Bodo Kirchhoffs „Die Liebe in groben Zügen“
als der deutsche Gesellschaftsroman unserer
Zeit und das literarische Ereignis nicht nur
dieser belletristischen Saison
 
Bodo Kirchhoff ist  mit einer Vielzahl von Theaterstücken, Novellen und Romanen nicht nur einer der produktivsten deutschen Schriftsteller, sondern auch einer der besten. In seinem Werk stellt er stets die Liebe in Frage, damit sogleich die zwischenmenschlichen Beziehungen und pflegt einen eleganten literarischen Stil, der dem Rhythmus der Sprache vertraut. Doch vom Literaturbetrieb wird er wenig geschätzt, man wirft ihm Eigenwilligkeit und Arroganz vor, nur weil er den Betrieb scheut, die Literaturkritik selbst kritisiert, und zudem mit einem zu literarischen Stil Aversionen weckt. So ist ihm auch noch keiner der bedeutenden Literaturpreise zuerkannt worden. Immerhin war sein neuer Roman „Die Liebe in groben Zügen“ für die Longlist zum Deutschen Buchpreis nominiert, bei der Wahl zur Shortlist ließ ihn die Jury durchfallen.
   Das hohe Lied der Liebe singt Bodo Kirchhoff nicht, seit eh und je erzählt er von ihren Abgründen, hinter denen sich aber noch etwas anderes verbirgt. Kennt der Mensch die Liebe eben nur in groben Zügen, bleibt sie für ihn eine Chimäre? Was ist es dann, das den Menschen unablässig bedrängt und umtreibt?
  Sehnsucht nach Liebe ist die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam. Und ihre Erfüllung? Ist alles und Nichts, ein Ewig bis auf weiteres; Details pfeifen seit jeher die Spatzen vom Dach. Aber welches Liebesglück ist schon originell, und welches Sehnen hat nicht etwas von einem Gedicht, das die Zeiten überdauert? Es gibt kein modernes Unglück, es gibt nur das alte Lied. Zwei Paare getrennt durch ganze Epochen, zweimal das alte Lied: Franz und Klara, das Jahr zwölfhundertsechsundzwanzig, er halbblind und singend, den Spatzen nah, sie sein betender Schatten- Verrückte aus heutiger Sicht, der des anderen Paars: Vila und Renz, erwachsene Tochter, Wohnung in Frankfurt, Haus in Italien, beide im Takt unserer Zeit. Und als Bogen zwischen den Epochen ein Mann auf den Spuren des Franz von Assisi, nach einem Zwischenfall auf und davon.“ 
  Diese ersten Zeilen des Romans erzählen schon seine ganze Geschichte und dennoch folgen fast siebenhundert Seiten, in denen Kirchhoff das Leben dieser fünf Menschen in allen erschütternden Einzelheiten ausbreitet. Vila moderiert im Fernsehen eine Kulturtippsendung, Renz verfaßt Drehbücher für Vorabendserien. Seit Jahren leben sie in einer Ehe ohne den rechten Schwung, und das Grauen des Alters lauert in Sichtweite. Auch die eine oder andere Affäre kann sie nicht auseinanderbringen, obwohl sie immer mal von Trennung gesprochen haben. Fast ein Ritual. Ein Paar wie unzählige andere, unspektakulär also. Wie aber Kirchhoff die geheimsten Ecken ihrer Seelen ausleuchtet, das behauptete Leben messerscharf seziert, bisweilen mit bissigem Humor, fast Spott, aber stets mit Empathie, das ist brillant und erschreckend zugleich.
Wie stets haben Vila und Renz den Sommer in ihrem Haus am Gardasee verbracht. Bühl wird es den Winter über hüten, dort ein Buch zu Franz von Assisi und seiner Ordenschwester Klara beenden. Vila hat Bühl in ihrer TV-Sendung als Gast gehabt, und es kommt, wie es kommen muß, die Sehnsucht nach Liebe treibt sie aufeinander zu und hinter dem Rücken von Renz führt diese zu einer Liaison, die beide für Liebe halten.
In das Sommerende war zuvor die Nachricht geplatzt, daß Katrin, die Tochter von Vila und Renz, von einem Kubaner schwanger ist, abtreiben will. Eine Nachricht mit Schrecken für das Paar, vor allem für Vila. Sie eilt nach Kuba, begleitet von Bühl, will die Tochter überreden, das Kind zu bekommen, sozusagen als Ersatz für ein Kind, das sie selbst einmal abgetrieben hat. Die kubanischen Tage auf der Suche nach Katrin, in denen so etwas wie eine ungefähre Liebe Vila und Bühl vereint, erzählt Kirchhoff derart lebendig, daß man als Leser meint, man liefe mit ihnen durch Havanna. Vila findet schließlich die Tochter, doch zu spät. Inzwischen hat auch Renz ein Verhältnis begonnen, mit einer TV-Producerin, die aber an Krebs erkrankt ist, Versuch einer Liebe, die indes von vorneherein auf ein Ende zuläuft.
Ein Thema begleitet untergründig den gesamten Roman, das des sexuellen Mißbrauchs.
Bühl ist an einem Bodenseeinternat von einem Lehrer verführt worden. Diese sexuelle Erfahrung hat ihn geprägt und womöglich nur beschränkt liebesfähig gemacht. So widmet Bühl sich der reinen Liebe des Franz von Assisi zu Klara, hinter der eine noch größere wacht, die zu Gott. Und um den erlittenen Mißbrauchs und eine mögliche eigene Schuld zu büßen, schreibt Bühl die Liebesgeschichte aus einer anderen Zeit auf.
  Ich will Dich! Kein verbürgtes Wort, aber eins, wie Franz es selbst schon gehört hat, von Gott. Klara hebt den Kopf, und er muss ihren Blick ertragen, der Preis für solche Worte...Franz berührt ihre Schultern, er nennt sie seine Stütze. Er hebt die Hände, von der Schultern zur Stirn, die sich ihm bietet, er berührt ihre Schläfen. Sie ist so groß wie er, eine schlanke Gestalt, knabenhaft, ihre Augen schauen in seine Augen. Franz segnet sie und geht. Aber er ist nicht allein, als er sich im alten Laub hinlegt: in seinen Fingerkuppen noch der Puls von Klaras Schläfen.“
 
  Kirchhoff  hat seinen Frankfurter Poetikvorlesungen von 1995 „Legenden um den eigenen Körper“ nun ein Essay hinzugefügt: „Auf dem Weg zu einer Sprache der Sexualität“. Darin tut er nicht nur einen selbst erlittenen Mißbrauch kund, sondern bezeichnet diesen als Auslöser eigenen Schreibens. Im Roman schildert Kirchhoff eine TV-Talkshow. In ihr erblickt Bühl Cornelius Kilian-Siedenburg, seinen Freund aus Internatssehnsuchtszeiten, der nun als Experte zum Thema „Sexueller Mißbrauch“ auftritt und auf einen Schriftsteller trifft, in dem Kirchhoff unschwer zu erkennen ist.
  Aus der Kulisse tritt eine Frau ohne Alter, Carmen Streeler, schiefergrauer Anzug, weiße Bluse, Gigolofrisur. Die Gäste sitzen schon am Tisch, und Carmen Streeler begrüßt die Justizministerin, dann einen Kirchenvertreter, so rosig weich wie ein Kirchenvertreter nur sein kann, einen Schriftsteller, silberhaarig mit regloser Miene, in jungen Jahren selbst von der Thematik betroffen, und noch den Initiator einer Stiftung zur Entschädigung von Missbrauchsopfern Cornelius Kilian-Siedenburg... Scham meint er, und er setzt die filigrane Brille ab, man fühlt sie und es zerreißt einem das Herz, sentio et excrucior wie der Lateiner sagt. Für Carmen Streeler der Moment, den Schriftsteller aufzurufen, wie er sprachlich mit all dem umgehe. Und der Silberhaarige mit schmalem Kopf rät dazu, bei dem Thema generell mit Worten aufzupassen: Wer von Missbrauch rede, müsse sich auch nach dem Gebrauch fragen lassen, so einfach sei das mit dem Begehren und der Liebe nicht. Der Liebe? Carmen Streeler verwehrt sich gegen das Wort Liebe in dem Zusammenhang.“
  In seinem Essay schildert Kirchhoff diese Szene so, wie sie sich real mit ihm in einer Talkrunde der ARD ereignet hat. Als er den Begriff Liebe ins Spiel gebracht und gemeint habe, hinter sexuellen Übergriffen steckten immer Verschmelzungssehnsüchte, sei die Moderatorin ihm über den Mund gefahren: Thema verfehlt.
Stets sind in Kirchhoffs Romanen und Erzählungen die Protagonisten Variationen seiner selbst, und in „Die Liebe in groben Zügen“ sowohl Bühl als auch Renz. Seine Bücher sind so auch immer
Selbstentblößungsliteratur, nicht zum Schaden der Literatur wie bei Walser oder Grass, sie besitzen bei Kirchhoff nämlich eine Wahrhaftigkeit, die aus der Verwandlung seiner selbst in eine fiktive Person erwächst. „Ich bin, was ich erzähle, und bin es nicht“, hat er in seinen Poetikvorlesungen bekannt.
Und dadurch, daß er es eben auch nicht ist, gelingt es Kirchhoff, den Lesern, besonders denen seiner Generation, einen Spiegel vorzuhalten, in dem man sich mit Schrecken erkennt. Das Paar Renz-Vila und die anderen von sich selbst gelangweilten Paare stehen für eine mental gestörte Gesellschaft: Man hat eine schicke gutbürgerliche Wohnung, dazu ein Haus auf Mallorca oder am Gardasee, und doch wirken die Menschen merkwürdig unbehaust, sie sind mit ihrer Sehnsucht allein. „Die Liebe in groben Zügen“ ist der deutsche Gesellschaftsroman unserer Zeit und für mich das literarische Ereignis nicht nur dieser belletristischen Saison.
 
Bodo Kirchhoff: „Die Liebe in groben Zügen“
© 2012 Frankfurter Verlagsanstalt, Roman, 670 S.,  28,-  Euro
Bodo Kirchhoff: „Legenden um den eigenen Körper“
© 2012 Frankfurter Verlagsanstalt, Essay, 189 S. , 16,90 Euro
 
 
 
© Jörg Aufenanger - Zuerst im WDR 3 gesendet am 20.9.2012
Redaktion: Frank Becker