Askese und Lust, tiefer Glaube
und weltliche Versuchung Ein Gelände, umgeben von Mauern, Zäunen gar Stacheldraht. Doch es handelt sich nicht um einen Knast, sondern um ein katholisches Internat, 1980er Jahre im Westen Deutschlands, am Niederrhein. Darin leben Jungen vor und während der Pubertät mit allen Problemen und Sehnsüchten, die die Gleichaltrigen außerhalb dieser hermetisch abgeschlossenen Welt auch quälen. Doch die katholischen Zöglinge fühlen sich auserwählt: „Wir in Kahlenbeck“. Unter ihnen lebt der fünfzehnjährige Carl Pacher, Protagonist des Romans, der Zweifel nagt an seinem Herzen, ob er nun gottgefällig lebe. Er erhofft ein Zeichen des Herrn, daß der seinen Glauben annimmt, hat stets Angst vor ewiger Verdammnis, die demjenigen blühen soll, der den Weg zu Gott nicht findet. Und nach zwei Jahren Kahlenbeck und 507 Seiten Roman lebt er immer noch in demselben Zweifel. Nicht viel ist passiert, kann nicht passieren in diesem Huis-Clos, über dem nicht nur der Präses wacht, sondern ebenso unerbittlich das Auge Gottes. „Und immer wieder die Hoffnung, es könnte sich etwas ereignen“. Nicht nur Carl wartet, sondern mit ihm auch der Leser, dennoch hält er dieser Ereignislosigkeit Stand und folgt diesem Nichtroman, der eher eine Bestandaufnahme von zwei Jahren Leben ist, mit wachsender Neugier und Empathie für diesen Carl, womöglich in der steten Hoffnung, irgendwer oder irgendwas möge diese geschundene Seele retten.
Christoph Peters, der selbst in einem katholischen Internat aufgewachsen ist, gelingt es wohl auch deshalb, diese dem wohl meisten Lesern fremde und rätselhafte Welt, so nahe zu bringen, als teilte man das Internatszimmer mit Carl Pacher. Tief dringt Peter in dessen Inneres ein, vermag es in allen Verästelungen aufzuzeigen und die Verwirrungen, die ihn martern. Alles nämlich, was von Gott abhält, ist Sünde in diesem Kerker, schleichendes Gift überall und immerzu. Begehrt Carl das Küchenmädchen Ulla, so wächst mit der Lust zugleich die Gewissensqual. Als es schließlich zu zaghaften ersten erotischen Versuchen kommt, führen sie zu einem Liebesdesaster, an dem Carl zu zerbrechen droht, während um ihn herum die homophilen Verlockungen der Jungen in der reinen Phantasie stecken bleiben. Gar pubertäre Selbstmordgedanken werden als Versuchung des Teufels erlebt, genauso wie das geheime Trinken, Kiffen und Musikhören. Um die Widersprüchlichkeit eines Lebens in religiöser Quarantäne zu schildern, setzt Peters kursiv gedruckte Litaneifetzen mit Songtexten von DAF, Fehlfarben und den Sex Pistols als Kommentar in die Erzählung hinein.
Das Buch reiht sich ein in die klassischen Internatsromane, in denen es um Lust und Leid der Schüler geht, ob bei Robert Musil in den „Verwirrungen des Zöglings Törless“ oder bei Georges Arthur Goldschmidt in „ Die Absonderung“. Bei diesem Deutsch-Franzosen werden Marter und Qual einer abgeschotteten Welt wesentlich erbarmungsloser nachgezeichnet und zur Anklage, während Peters von diesem Leben in Gottesfurcht mit Sympathie und Verständnis erzählt.
Nicht jedes Lesers Sache werden die endlosen Dispute über Glaubensfragen sein, die die Schüler mit und gegeneinander führen, was sich bisweilen zu inquisitionsartigen Verhören der älteren Schüler mit den Jüngeren steigert. Zwei Höhepunkte des Buchs führen aus der geschlossenen Anstalt des Internats hinaus, zum einen in die Schweizer Alpen. Dort unternehmen die Kahlenbecker gemeinsam mit dem Präses, als wären es religiöse Exerzitien, waghalsige Klettertouren, aber mit Gottvertrauen, das jedoch einen tragischen Tod auch nicht verhindern kann.
Zum anderen berichtet Peters von einer Freizeit auf dem Anwesen einer bizarren Gräfin im sauerländischen Suddentrop, wo gelegentlich auch ein Kardinal Ratzinger zu Gast war. In einer fulminanten Rede verdammt sie nicht nur den Evolutionismus, sondern jeglichen antireligiösen Frevel.
Die Welt, in die uns dieses Buch führt, ist ein Fegefeuer als Vorhof zur Hölle oder zum Himmel. In ihm liegen Askese und Lust, tiefer Glaube und weltliche Versuchung, Einsamkeit und kollektiv religiöser Überschwang im steten Wettstreit miteinander. So fremd diese Welt erscheint, sie würde viele Leser wohl kaum interessieren, könnte Peters nicht so anschaulich situativ und mitreißend erzählen.
Jörg Aufenanger
Christoph Peters: „Wir in Kahlenbeck“
2012 Luchterhand Verlag, München, 507 Seiten gebunden, ISBN: 978-3-630-87321-3
auch als eBook zu haben - 22,99 €
Weitere Informationen: www.randomhouse.de
Zuerst erschienen in der Frankfurter Rundschau und Berliner Zeitung am 9.10.2012
Redaktion: Frank Becker |