Die Geburtsstunde
der Fotografie Fulminante Fotoausstellung
der Gernsheim-Collection in den Mannheimer
Reiss-Engelhorn-Museen Mit der Erfindung der Fotografie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann ein lang gehegter Menschheitstraum in Erfüllung zu gehen, nämlich Bilder „in unnachahmlicher Treue“ (Humboldt) apparativ herstellen zu können, also ohne sich der geistgeleiteten und handwerklich geschulten Hand bedienen zu müssen. Es handelte sich zweifellos um eine der folgenreichsten technischen Erfindungen der Neuzeit, die das Versprechen einer „objektiven“ Wiedergabe der Wirklichkeit enthielt.
Obsessiver Fotosammler
Teil der Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen, die regelmäßig mit spektakulären archäologischen,
Helmut Gernsheim (1913-1995), selbst ausgebildeter Fotograf, emigrierte in der Nazi-Zeit nach England und begann in den1940er Jahren gemeinsam mit seiner englischen Frau Alison in geradezu obsessiver Manier Fotografien erster Güte zu sammeln. 1963 verkauften die Gernsheims ihre inzwischen auf rund 35.000 Originalabzüge angewachsene Sammlung an die Universität Texas in Austin (heute befindet sie sich im Harry Ransom Center). Das Ehepaar setzte sich in Lugano zur Ruhe. Doch nach Alisons frühem Tod erwachte die Sammelleidenschaft Gernsheims, der sich auch als Autor einer bis heute grundlegenden Fotogeschichte („The History of Photography“) verdient gemacht hat, erneut. Im Mittelpunkt seiner Aktivitäten als Sammler stand nun die zeitgenössische Fotografie. Sieben Jahre nach seinem Tod konnten die Reiss-Engelhorn-Museen im Jahr 2002 diese zweite Gernsheim-Sammlung erwerben. Eine hochkarätige Auswahl aus beiden Teilen der Gernsheim-Collection ist noch bis zum 6. Januar 2013 im Museum Zeughaus in Mannheim zu besichtigen.
Urknall der Fotografie
Der Mannheimer Foto-Parcours führt den Besucher von einem Highlight der Fotogeschichte zum anderen. Den absoluten Höhepunkt der Ausstellung bildet die in einem hermetisch geschlossenen, klimatisierten Schaukasten wie eine Reliquie fast sakral inszenierte erste Fotografie der Welt, ein Werk, das in der Presse auch als „Urknall des Fotografie“ (FAZ) apostrophiert wurde. Das ist eine bombastische Formulierung, zumal angesichts des unscheinbaren Aussehens dieses Exponates. Zieht man seine Bedeutung als Ausgangspunkt einer Medienrevolution ungeahnten Ausmaßes in Betracht, ist die Urknall-Metapher allerdings absolut berechtigt. Im Jahr 1826 gelang dem Franzosen Joseph Nicéphore Niépce mit einer Camera Obscura die Herstellung einer sog. Heliographie (abgeleitet aus dem Griechischen „gráphein“= schreiben, zeichnen, und „hélios“ = Sonne), die als erste Fotografie in die Geschichte einging. In einer für diesen Zweck eigens konstruierten Kamera plazierte er eine mit Asphalt beschichtete Zinnplatte (etwas kleiner als DIN A4), die er über acht Stunden lang dem Sonnelicht aussetzte, also belichtete. Durch die Einwirkung des Lichtes wurde der Asphalt gehärtet. Bei der anschließenden Behandlung der Platte mit Lavendelöl und Petrolium wurden die schwächer belichteten Asphaltpartien herausgelöst, während die anderen „fixiert“ blieben. Das Resultat war ein dauerhaftes Direktpositiv. Zweifellos markierte dieses Experiment einen entscheidenden Schritt hin zur automatischen Bildaufzeichnung. Das Bild zeigt einen Blick aus dem Fenster des Zimmers von Niépce in Le Gras bei Chalon-sur Saône. Technisch allerdings noch unzureichend, war es dann Louis Jacques Mandé Daguerre, dem Ende der 1830er Jahre die Vervollkommnung des heliographischen Verfahrens gelang und der mit seinen Daguerrotypien allgemein als Erfinder der Fotografie gefeiert wird, was historisch freilich nicht ganz korrekt ist. Doch das ist eine andere Geschichte. Parcours der Foto-Ikonen
Die Mannheimer Ausstellung ist nicht chronologisch, sondern nach Themengruppen geordnet:
Lediglich ein Foto sei herausgegriffen, nämlich die Ikone der Kriegsfotografie des 20. Jahrhunderts, Robert Capas berühmtes Bild „The Falling Soldier“ (wir können es Ihnen hier leider nicht zeigen), aufgenommen 1936 im Spanischen Bürgerkrieg. Bis heute ist umstritten, ob dieses Foto tatsächlich den tragischen Todes eines republikanischen Kämpfers dokumentiert, oder ob es sich um eine ästhetisch überaus effektvolle Inszenierung, ein Fake, handelt. Die anhaltende Kontroverse um Capas Foto bietet einmal mehr die Gelegenheit, die Grundsatzfrage zu stellen, ob der eingangs erwähnte Anspruch der Fotografie auf „Wirklichkeit“, Wahrheitstreue und Authentizität haltbar ist. Daß dieser Anspruch keinesfalls immer und nur bedingt aufrecht zu erhalten ist, dürfte sich allerdings spätestens im Zeitalter des digitalen Bildes allgemein herumgesprochen haben.
Keine noch so qualitätvoll gemachte Publikation kann die Erfahrung des Originals ersetzen. Dennoch sei allen an Fotografie Interessierten, die die Ausstellung in Mannheim nicht sehen können, dringend das exzellente, hervorragend bebildert Katalogbuch empfohlen: Die Geburtsstunde der Fotografie. Meilenstein der Gernsheim-Collection, hrsg. v. Alfried Wieczorek und Claude W. Sui, Kehrer Verlag, 304 Seiten, 244 Farb- und S/W-Abbildungen, ISBN 978-3-86828-330-3, 39,90 Euro.
Reiss-Engelhorn-Museen - Forum Internationale Photographie
Museum Zeughaus - C5 - 68159 Mannheim Noch bis 24.2.2013
Weitere Informationen: http://www.rem-mannheim.de und http://www.kehrerverlag.com
Redaktion: Frank Becker |